ww
Die Veme
Neuerdings?!) ist diese Auffassung angegriffen worden. Die Freigrafschaft
scheine nicht alle Freien, sondern nur eine bestimmte Art von Freien umschlossen zu
haben, diejenigen nämlich, die auf Grund und Boden saßen, der im Obereigentum
des Kónigs stand.?) Diese ,,Freibauern'' sind zwar frei, aber sie sind von ihren Gütern
dem König oder an seiner Stelle dem Freigrafen abgabepflichtig. Der König oder
In seinem Namen der Freigraf übt über diese Leute die königlichen Herrschafts- und
Gerichtsrechte aus. Sie sind entweder teilweise oder gänzlich von dem öffentlichen
Grafengerichte befreit. Demnach hätte die Freigrafschaft sich wesentlich vom Gra-
fengericht unterschieden und stellte ein von der Grafschaft unabhängiges Sondergericht
für eine bestimmte Gruppe von Freien dar. Sie wäre von Haus aus gar kein Organ
des öffentlichen Rechts gewesen wie die Grafschaft, sondern hätte in dem privaten
Herrschaftsrecht des Königs ihren Rechtsgrund gehabt. Der Freigraf ist ein Beauf-
tragter des Königs, sein Vertreter in dem besonderen Rechtskreis der königlichen
Privatherrschaft. Er übt herrschaftliche Zwangs- und Bannrechte im Namen des
Königs aus, aber nicht im öffentlich-rechtlichen Sinne, sondern in königlichem Pri-
vatherrschaftsrecht.?) Man hat nun in diesen privatrechtlich-herrschaftlichen Ver-
hältnissen ein Verfallsprodukt ursprünglich öffentlicher Rechte erblicken wollen ;
aber es liegt kein zwingender Grund dazu vor. Wenn die neue Ansicht der Nach-
prüfung standhält, dann ist eher anzunehmen, daß die Freigrafschaften auf alten
königlichen Besitz zurückgehen.
Der Freigraf*) hält als Vertreter des Königs Gericht ab an den Freistühlen?),
die Freigrafschaft umfaft einen oder mehrere Freistühle.
Die Bezeichnung des Freigerichts mit ,, Veme'* ist zuerst 1951 bezeugt$) ein Ausdruck, der
schon vielfache, aber keine allseitig befriedigende Deutung erfahren hat"); die Gerichtsgenossen
wurden dementsprechend ,,vimenoth'* (zuerst 1227), ,,vemenote‘“, Vemgenossen, genannt.
Der Besitzer eines Freistuhles hieB seit dem 15. Jh. Stuhlherr ; er konnte über
den Freistuhl frei verfügen, ihn veräußern, ohne daB das Obereigentum des Kónigs
dadurch beeinträchtigt wurde. Der Kölner Erzbischof hatte zunüchst als westfüli-
scher Herzog keinerlei Rechte®) über die Freigrafschaften, aber er besaß als Stuhl-
herr vier Freistühle: zu Rüthen, Medebach, Kanstein und Scherfede. Andere
1) Zuerst hat E. MEisTER (aaO. S. 32—69 u. 163—165) auf den von der öffentlichen Graf-
schaft verschiedenen Charakter der Freigrafschaft hingewiesen. Das Freigrafengericht setzt er dem
SchultheiBengericht gleich. S. 212f.
2) Die Pfleghaften des Sachsenspiegels. S. o. S. 182.
3) Auf diese Bezirke kóniglicher Sonderherrschaft ist noch zu wenig geachtet worden. Waas
(aaO. S. 161) ist geneigt, den ganzen Wetterauer Bezirk als königliche Sonderherrschaft aufzufassen
mitsamt den Reichsburgen Friedberg, Münzenberg und Gelnhausen und den Reichsstádten Frank-
furt, Friedberg und Wetzlar.
4) Der Ausdruck vrigreve kommt zum erstenmal 1186 vor; sonst liberorum comes, liber
comes, vrigravius, liber iudex u. à.
5) Zuerst überliefert zu 1269: sedes libera, andere Ausdrücke sedes libertatis, sedes liberi
comitis oder comitatus, sedes regia oder regalis, vrystuel u. à.
6) Privileg des Erzbischofs Konrad von Hochstaden für Brilon: quod illud occultum iudicium,
quod vulgariter vehma seu vridinch appellari consuevit. SEIBERTZ, Urkundenbuch zur Landes-
und Rechtsgeschichte Westfalens I, Nr. 269.
7) Die früheren Deutungen sind übersichtlich zusammengestellt von GEISBERG in der Zeit-
schrift f. vaterl. Gesch. u. Altertumsk. Bd. XIX. Siehe auch LINDNER aa0., Abschnitt 75: Die
Bedeutung des Wortes Veme, S. 303f. Er gibt dort die Ansicht von F. JosrES wieder, daf dem
Wort Veme der Begriff Gesellschaft, Genossenschaft, Verband zugrunde liege. — Jedenfalls ist das
Wort aber im 13. Jh. in der Bedeutung ,,Strafe verwandt worden, so daB der Bezeichnung Vem-
gericht die Bedeutung Strafgericht, StrafprozeB innewohnen würde.
8) Im 13. Jh. wird zuweilen zu den Freigerichtsentscheidungen die erzbischofliche Bestáti-
gung eingeholt, im 14. Jh. nicht mehr. Aber seit der Mitte des 14. Jhs. suchen die Erzbischófe gerade
mittels der Freigerichte ihre Herzogsgewalt in Westfalen zu stürken. Ähnlich haben die Bischöfe
von Minden Freigrafschaften erworben und benutzt, um ihre Landeshoheit zu festigen und zu er-
weitern. — HEUSLERS Darstellung (Vig. S. 223) erweckt die schiefe Vorstellung, als ob schon seit
Friedrich I. der Erzbischof von Köln die Bannleihe als westfülischer Herzog an den Freigrafen voll.