Full text: Deutsche Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert (2. Reihe, Abteilung 3)

  
14 Aloys Meister: Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters usw. 
bedeuten kann. Der Landbezirk Gau, pagus, kann das Gebiet einer Siedelungsge- 
meinschaft und das mehrerer Siedelungshaufen, er kann des Gebiet einer civitas und 
ar kann auch ein Teilgebiet einer civitas sein. Wie die civites ganz verschieden war an 
Volkszahl, so auch ganz verschieden ihr Verhältnis zum Gau, zumal dieser selbst keine 
feststehende, sondern eine sehr varlierende Größe war. Mit dieser Tatsache ist es ganz 
gut vereinbar, daß ein Gau sehr selbständig werden und seine Insassen ihre eigenen 
volitischen Wege gehen konnten, wie ja der cheruskische Gau Ingwiomers sich von der 
Erhebung der Cherusker ausschlo8. Es wáren die Nachrichten des Tacitus (c. 6) damit 
in Einklang, da hundert Mann aus jedem Gau zu der aus Reitern und FuBbsoldaten 
bestehenden Elitetruppe vor der Schlachtreihe ausgewählt wurden. Tacitus hatte hier 
volkreiche Volkerschaftsgaue im Auge. Dagegen gab es auch kleinere Gaue, nämlich 
Siedelungsdistrikte von Sippen und Dorfschaftsgaue. 
Der Gau ist elso nur eingeographischer ?), kein politischer Begriff, und dem- 
entsprechend gab es auch zunüchst keine Gauverfassung. Eher wurde ein solcher geo- 
graphischer Distrikt zum Gerichtsbezirk. Erst da, wo der Gau später der Bezirk einer 
Grafschaft wurde, ist er zu einem politischen Bezirk geworden. Als man später in 
fränkischer Zeit zur Bildung von Gaugrafschaften schritt, da sind auch mehrere Gaue 
oder Teile davon (Goe Westfalens) zu einem groBen Grafschaftspagus vereint worden. 
Nach der Völkerwanderung und der Bildung der Stämme, beziehungsweise nach 
der Gründung des fränkischen Reiches, begegnen uns andere Bezirksbezeichnungen 
zum 'l'eil erst ziemlich spàt, die man ihrer Natur nach als gleichartig angesehen und 
vielfach auch für die Urzeit als vorhanden gewesen angenommen hat. Das sind Aus- 
drücke wie eentena bei den Franken, huntari bei den Alamannen, hundari bei den 
Schweden und hundred bei den Angelsachsen. 
Die Gelehrten - Forschung machte daraus den Begriff der Hund ertschaft, 
worin der Zahlbegritt 100 oder 120 ( GroBhundert) stecken soll, und unterschied eine per- 
sonale Hundertschaft und eine territoriale Hundertschaftt. 
Es ist herrschende Meinung geworden, da die mit der Zahi 100 in Verbindung 
stehende Hundertschaft schon der germanischen Vorzeit angehört habe, daß sie ur- 
germanisch sei und deshalb auch gemeingermanisch. Meinungsverschiedenheit be- 
stand nur insofern, als die einen nur die personale Hundertschaft auf die Vorzei: zu- 
rüekdatierten, die anderen auch die territoriale Hundertschaft. Gegen die Annahme 
einer gemeingermanischen Einrichtung hátte sehon sprechen müssen, daB die vermeint- 
liche Hundertschaft sich sprachlich nicht bei allen germanischen Stämmen nach- 
weisen ließ; sie fehlt bei den Sachsen, Friesen, Bayern, Langobarden und Westgoten 
und sie fehlt bei den Ostgermanen. Deshalb haben vorsichtige Forscher sie auch bei 
diesen genannten Stämmen als nicht vorhanden angesehen, während andere in metho- 
disch anfechtbarer Weise angenommen haben, daß die bei diesen anderen vorkommen- 
den Bezeichnungen Go (Sachsen), Del, Ban (Friesen) eben die vermifite Hundertschaft 
bedeuteten. 
1. Für die personale Hundertschaft in der Vorzeit tritt vor allem H. BRUNNER?) 
ein. Nach dieser Auffassung ist die Hundertschaft ursprünglich eine Gliederung des 
Heeres (Heerestheorie) gewesen und, da Heer und Volk zusammenfielen, in Friedens- 
1) Die ältesten Gaue wird man daher auch vielfach geographisch benannt haben, etwa nach 
Flußnamen, da die Ansiedelung dem Lauf der Flüsse folgte: Emsgau, Hasegau. 
2) H. BRUNNER, Rechtsgeschichte I?, 1591#f. Frühere namhafte Anhänger dieser „Heeres- 
theorie‘’ waren Frornorn, Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte; WıLDA, Strafrecht der Germanen 
1842; K. MAURER, Kritische Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft I, 1853; 
LANDAU, Die Territorien usw. 1854; G. L. MAURER, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- 
und Stadtverfassung 1854; GEMEINER, Die Verfassung der Centenen usw. 1855; WALTER, Deutsche 
Rechtsgeschichte 18572; R. SCHRODER, Rg.; HEUSLER, Vg. u. viele andere. 
   
      
  
  
  
   
   
     
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
   
   
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