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Gerichtsverfassung 77
2. Dingpflicht und Gerichtsverfassung.
R. SoHM, Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung. 1871, unver. Neudruck 1911. Hrr-
MANN, Über die Entwickelung des altdeutschen Schôffengerichtes. 1881, in GIERKES Untersuchungen
H.10. W. Stckxr, Die Entstehung des Schóffengerichtes. ZSavRg. 6. H. BRUNNER, Die Herkunft
der Schöffen. MIÖG. 8. L. BzAUcHET, Histoire de lorganisation judiciaire en France. 1886.
v. SCHENK ZU SCHWEINSBERG, Die Grafschaftsgerichtsstätten Maden und Rucheslo. Ein Beitrag
zur Frage, ob die drei generalia placita Gau- oder Hundertschaftsversammlungen waren. Z. f. Hes.
i Gesch. NF. 5, S. 210. R. ScHrônER, Rg.° $ 25. H. BRUNNER, Rg. 2 § 88. HxusrLer, Vig.
8. 601., 68f., 1101.
Wir haben für die germanische Zeit die Siedelungsbezirke mit ihren für diese
mehr oder minder unbestimmten Bezirke geltenden Gerichten kennen gelernt; die Sie-
delungsgemeinde, — auch wenn sie sich allmühlich erweiterte, — war Gerichtsgemeinde
an der eigenen Malstütte (Malloberg). Nun kam die fränkische Organisation und legte
das Grafschaftssystem darüber. Es wurden gróDere Bezirke als Grafschaften bezeich-
nei, und für sie wurde der Graf der Richter. Die Grenzen solcher Grafschaften konnten
80 laufen, daB sie eine Anzahl altgermanischer Gerichtsbezirke genau umschlossen,
sie konnten aber hier und da aus Zweckmäßigkeitsgründen einen alten Gerichtsbezirk
durchschneiden und Teile davon einer anderen Grafschaft zuweisen.!) Das fränkische
Grafschaftsgericht hat nun da, wo die fränkischen Einrichtungen ganz durchgeführt
wurden, die altgermanischen Richter an den Bezirksmalstätten verdrängt, und der
Graf hat ihre Funktionen übernommen: die alten Gerichtsbezirke sind Unterbezirke der
Grafschaft geworden. In Sachsen aber hat das fränkische Grafengericht die altsäch-
sischen Gogerichte nicht zu beseitigen vermocht. Hier blieben die alten Gogerichte
bestehen?) und daneben, getrennt von ihnen, sind die fränkischen Grafschaftsgerichte
eingeführt worden.
Im Gerichtsverfahren lassen sich seit der Völkerwanderung und den Stammesbil-
dungen kleine Unterschiede erkennen. Die Urteilsfrage richtet der vorsitzende Rich-
ter bei einzelnen Völkern an eine Mehrheit von Dingleuten, bei anderen an einen be-
sonders angesehenen und rechtskundigen Dingmann. Bei den Frauken hieß der Aus-
schuß der Befragten Rachineburgen, Ratgeber. Sie wurden, — es waren jedesmal 7, —
bei jeder Gerichtsversammlung aus den Erfahrensten ausgewählt; sie machen auf Be-
fragen den Urteilsvorschlag.
Bei den Bayern ist es nur ein Mann, der um den Urteilsvorschlag gebeten wurde ;
er hief urteilo, éteilo oder ésago und wird lateinisch als iudex bezeichnet.?) Neben
ihm, der immer vornehmer Herkunft war, erscheinen dann noch andere Angesehene,
die nach ihm dem Vorschlag zustimmten. Auch bei dert Alamannen hat es nach der
lex Alamannorum einen urteilenden iudex gegeben, der wohl dem bayrischen iudex
ähnlich war. Der âsega, iudex, der Friesen ist ebenfalls damit verwandt; aber er ist
nicht bloß der erste Urteilsfinder, sondern der einzige, der vom Richter aufgefordert
wird. Auch jüngere ostfälische und. holsteinische Quellen kennen einen ésago, der dem
bayrisehen verwandt ist; vielfach fungierte dort der Unterriehter, der Sehulthei&, als
ésago im Gericht des Oberrichters.* Ob die im sächsischen Heliand vorkommenden
éosagon ebenso zu deuten sind, ist dagegen fraglich. — Wahrscheinlich ist die Stellung
der ésagon, wie in Norwegen noch verfolgbar, hervorgegangen aus einem früheren
1) So ist es zuweilen bei den westfälischen Gogerichten der Fall, deren Grenzen nicht immer
mit den Grafschaftsgrenzen zusammenfallen. Vgl. Westfälische Landrechte I, hrg. von F. PuiurPer.
S. VII. Anm. 1.
2) Daraus wäre an sich für sie eine größere Kompetenz erklärbar. Siehe Westf. Landrechte I,
S. Xf. Dagegen FEHR in der Rezension von Morrrors Schrift iiber die Stände der Freien usw. in der
ZSavRg. 1911, S. 489. Vgl. auch SCHRÖDER, Gerichtsverfassung 65ff.; FzHR, Fürst und Graf 81 f.
3) Vgl. MERKEL, Der iudex im bairischen Volksrechte, in ZSavRg.1, S. 131; BEsELER, Der
iudex im bairischen Volksrechte, ebd. 9, S. 944.
4) Ähnlich sind in den westfälischen Gogerichten die Bauerrichter (Gemeindevorsteher) in der
Alteren Zeit als bevorzugte Urteilsfinder erwiesen.
Grundrif d. Geschichtswissensehaft IL 8. 8. Anfi. 6