88 Aloys Meister: Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters usw.
Reichsteilung zeigte diese Auffassung durch Stärkung der Kaiserwürde bei Wahrung
der Selbständigkeit der Teilreiche. Da aber im Bruderkriege der Inhaber des Kaiser-
tums besiegt wurde, so konnte der Besiegte keinen Anspruch mehr auf Oberherrlich-
keit über seine Sieger behaupten. Der Vertrag von Verdun ist deshalb der Bankerott
der alten Kaiseridee; jedes Teilreich war unabhängig geworden vom Kaiser, die Teil-
könige waren jetzt völlig Souveräne geworden. Nur das Bewußtsein gemeinsamer Bluts-
verwandtschaft der Herrscher war das noch einigende Band.!) Es war ein MiBgriff,
daB das Kaisertum mit dem mittleren Reiche verbunden worden war, das, aus allen
Nationalitäten des Karolingerreiches zusammengesetzt, keine natürliche innere Festig-
keit besaß und schon deshalb den Keim der Zersetzung in sich trug, außerdem aber,
zwischen dea beiden einheitlichen Nachbarreichen eingekeilt, zerrieben werden mute.
Die weitere Teilung von Lothars Reich unter seino Sóhne hatte den Kaiser Lud-
wig II. nur auf Italien beschränkt; sein Kaisertum war somit nur noch ein Schatten
vom Glanze des alten kaiserlichen Imperiums und eine Karikatur der christlichen
Kaiseridee vom Kaisertum als dem universalen Gottesstaat auf Erden. Die Zusam-
mengehörigkeit sämtlicher Reiche war nicht mehr im Kaisertum begründet, sondern
in der erbrechtlichen Anwartschaft eines Geschlechtes in allen Einzelreichen. Eine
einzige Familie, die karolingische, trug alle Kronen, und man wagte lange nicht, bei
Neuwahl eines Herrschers von dieser Familie abzusehen. Die Nachwirkung der Auf-
fassung, daß die fränkischen Reiche ein erbberechtigter Besitz des karolingischen
Hauses seien, war so stark, daB Karl III. (der Dicke) noch einmal, — es war ein letztes
Aufflackern des Reichsgedankens, — alle Reiche in einer Hand vereinigen konnte.
Erst als man in den einzelnen Reichen zu Herrschern aus anderen Häusern über-
ging, und auch die Idee des alleinberechtigten Gesamtbesitzes aller Kronen in einer
Familie verblaßt war, da war die Trennung der Reiche eine definitive.
Auch die Kaiseridee war unter dem Einfluß dieser Entwicklung ganz verblichen.
Dadurch, daß die Kaiserkrone auf das dem Untergang geweihte Teilreich Lothars ge-
fallen war, blieb sie schließlich nur noch an einem Teile dieses Teilreiches, an Italien
haften. Der tatsächliche Verlauf führte dahin, daß der Papst die Kaiserkrone verleihen
konnte nach seinem Ermessen, und er tat dies, ohne sich an das Kaisertum im frän-
kischen Stamm, ohne sich an die Glieder des karolingischen Kaisergeschlechtes zu
binden. Indem er die kaiserliche Würde an die kleine emporstrebende Familie der
Markgrafen von Spoleto vergab und sogar zwei Kaiser einmal gleichzeitig im Besitz
der kaiserlichen Krone waren — und alles dies noch, ehe die karolingische Dynastie
ausgestorben war —, hatte das Kaisertum seine Bedeutung völlig verloren. Der alte
Kaisergedanke war somit ganz zu Grabe getragen, und es änderte daran nichts mehr,
daB Karl IIL, auch von den Westfranken als ihr Herr und Kónig anerkannt, die Kai-
serkrone empfing und 896 noch einmal ein Karolinger in der Person Arnulfs von Kürn-
ten Kaiser wurde. Diese Kaiser hatten keine Zentralregierung mehr über die Teil-
reiche. Wenn auch Odo von Paris sich sein Königtum von Arnulf bestätigen ließ, so
war Arnulf doch nichts anderes als ein provinzialer Herrscher, dem man gestattet hatte,
sich Kaiser zu nennen.?) Ganz ähnlich ist auch weiterhin das kaiserliche Diadem, als
1) Range, Weltgeschichte 6, S. 111 bezeichnet die drei Reiche nur als
dem Zwecke der Administration und des Krieges, Teilgewalten auf das Erbreich
ihre Zusammengehürigkeit keinen Augenblick vergaßen‘‘.
2) RANKE, Weltgeschichte 6, S. 309: »Arnulfs Regierun
fürstentums, dem er das Kaisertum durch die Beistimmung der vornehmsten Fürsten annektiert
hat." HEUSLER, Vfg., S. 119: „es war kein Reich, das von einem Zentralpunkte aus geleitet worden
wäre, es war eine Vereinigung der Stämme, die sich auf einen Herrscher geeinigt hatten, ohne doch
ihre Privatexistenz als besondere Staatswesen aufzugeben.“
„Absonderungen zu
begründet, die aber
g trägt die Farbe eines Provinzial-