Full text: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart

RELIGIONSLEHRE, 445 
gion ein eigenes Gebiet geistiger Tätigkeit angewiesen zu haben. Während 
Kant die Religion als ein Anhängsel zur Moral behandelt und Hegel, in 
noch schlimmerer Einseitigkeit, sie zu einer unentwickelten Form des 
Wissens herabsetzt, hat Schleiermacher erkannt, daß sie nicht eine bloße 
Begleiterscheinung — sei es Nebenerfolg, sei es Vorstufe — der Sittlichkeit 
oder der Erkenntnis sei, sondern etwas Selbständiges, dem Wollen und 
Wissen Nebengeordnetes und Gleichberechtigtes. Der Nachweis, daß die 
Religion ihre Wohnstätte im Gefühl habe, ist um sc dankenswerter, als 
Schleiermächer darüber keineswegs. den Zusammenhang des Gottes- 
; bewußtseins mit dem Selbst- und Weltbewußtsein übersehen hat. Man 
kann übrigens die Schleiermachersche Gefühlstheorie für richtig halten, 
ohne deshalb das relativ Berechtigte an den von ihm bekämpften Religions- 
auffassungen zu verkennen. Mit der Ansicht, daß die Religion ihren Sitz 
im Gefühl habe, läßt sich ganz wohl die Anerkennung vereinigen, daß 
sie ıhren Ursprung im Willen, ihr Fundament in der Moral habe und daß 
| ihr überdies die Bedeutung zukomme (mit Schopenhauer zu reden), die 
| „Metaphysik des Volkes“ zu sein. 
- Wer die Religion der Frömmigkeit gleichsetzt, kann. doch nicht 
d leugnen, daß in einem zugleich des Wissens und Wollens fähigen. Wesen 
Ss jener fromme Gemütszustand Folgen im Gebiete des ‚Erkennens und 
Sn Händelns haben wird. Was den Kultus betrifft, so erklärt Schleier- 
d macher eine religiöse Handlung, die nicht aus dem eigenen Gefühl-ent- 
ES springt und in ihm nächklingt, für abergläubisch und verlangt, daß 
MD religiöses Fühlen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleite, 
re daß alles mit, nichts aus Religion geschehe. Statt sich in einzelnen 
a spezifisch religiösen Handlungen auszusprechen, soll das religiöse Gefühl 
x. das gesamte Leben gleichmäßig durchdringen. Ein Privatzimmer sei der 
ds Tempel, wo sich des Priesters Rede erhebt. Die Dogmen aber sind Be- 
nn schreibungen der frommen Erregung und entstehen dadurch, daß der 
en Mensch auf die religiösen Gefühle reflektiert, sie zu deuten, sie in Vor- 
“ stellungen und Worten auszudrücken versucht. Die Begriffe und Grund- 
a sätze der. Theologie sind nur als Bezeichnung und Darstellung von Ge- 
IS fühlen, nicht als Erkenntnisse gültig; schon durch die unver meidlichen 
z Anüthroporhorphismen sind sie völlig ungeeignet für die Wissenschaft. 
Sa Das Lehrgebäude ist eine Umhüllung, welche sich die Religion lächelnd 
* gefallen läßt. Wer die religiösen Lehrsätze als Wissenschaft behandelt, 
S verfällt in leere Mythologie. Glaubens- und Wissenssätze stehen in gär 
Ss keinem Verhältnis zueinander, weder in dem des Widerstreits, noch in 
S dem der Übereinstimmung, sie berühren sich gar nicht. Eine Theologie 
a als wirkliche Wissenschaft von Gott ist unmöglich. Aus den Dogmen 
mächt dann weiter die Kirche symbolische Satzungen, ein Schritt, den 
a man beklagen muß. Es ist zu hoffen, daß dereinst die Religion der Kirche 
nicht mehr bedürfen werde. In Hinblick auf den gegenwärtigen Zustand
	        
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