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Ein Kahn noch durchschneidet
Die dunkelnde Flut;
Die Sonne verscheidet
Und sinket und ruht.
Zn dieser Art zeichnen sich noch viele kleine Landschafts8-
stücke aus, die freilich jenen Leuten nicht genügen können,
welche auf je eine Strophe Bild eine Strophe Seele ver-
langen, die gewohnt sind, auf ein abgeschriebenes Stück Natur
die gleiche Quantität symbolischer Nußanwendung aufgeklebt
zu sehen, welche nicht begreifen, daß der Künstler die seelische
Anregung, welche er von der Natur empfängt, total und
ungebrochen nach außen widerspiegeln kenn, ohne über den
Prozeß in seinem Innern reflektiert zu haben. Rembrandts
meisterhafte kleine Radierungen, die man troß der nichts-
sagenden Gegenstände, an denen hier die höchste Kunst ge-
übt ist, für sv außerordentliche Meisterwerke hält, entbehren
der sogenannten Erfindung und sogar der äußerlichen Treue;
im höchsten Grade aber besißen sie Wahrheit, nämlich die
Wahrheit einer allgemein gültigen geistigen Anschauung, wie
sie bewußt oder unbewußt, rein oder getrübt in jedem Menschen
lebt. Dort wie hier finden wir, daß ein großes Stilprinzip
die eigenwillige Erscheinung in ihre äußersten Gänge ge-
duldig verfolgt und ven Lebensfonds verselben fast ohne Ab-
fall zu Tage fördert und uns dabei die Gesetze kennen lehrt,
nach denen eine naiurphilosophische Intuition im Menschen
wirkt. Was wir in der bildenden Kunst längst als berech-
tigt anerkannt haben, was uns in Schumanns minutiösen
Musikstücken bereits nicht mehr auffällt, wollen wir in der
Poesie nur zögernd anerkennen, obwohl un3 Goethe und
Heine sc<on manchmal diesen Weg geführt haben.
Mehr als alle komplizierten, dem Geiste schwer um-
faßbaren Kunstwerke führen solche einfache Proben von Form-
erfassung und Gefühlserguß, gleichwie kurze Muster künst-
lerischen Schaffen8, naiv in der Anschauung, unvermischt in