Briefe an Fräulein „*.
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Nacht und Stille. München, den 4. Nov. 1864.
Liebes gutes Greten !
Deine und Ludwigs*) Briefe sind im Traume meines
Lebens die einzigen Lichtblike und machen mich immer auf
Tage so vergnügt, daß ich der ganzen Welt um den Hals
fallen möchte; = aber die Welt ist kalt und würde mich
aus8lachen, höchstens einmal vom Geldzählen aufbliken, um
achselzu>kend zu sagen: er ist ein Narr. Frostige Schauer
überlaufen mich, wenn ich daran denke, wie es wäre, wenn
ich Euch beide nicht hätte, wenn ich Cuch nie kennen gelernt
und jekt allein dastünde, ein fremder, kleiner, kranker Vogel, im
großen Menschenwalde, ein einsames Tierchen, das leise sein
halbgebrochenes Lied in sich hineinsingt, bis es zuckend wie
sein Herz zögernd vom kahlen Aste fällt und die letzten
erlöschenden liebenden Blicke auf die kalt und mitleidslos
vorüberfliegenden Schaaren gerichtet, ungefannt und un-
beweint vergeht. Dann wäre es aber davongeeilt unhörbar
auf leichten Schwingen und hätte Euch gesucht und doch
noch gefunden, und die Bruchstücke seines - Liedes hätte der
Von einer langen Reihe von Briefen sind nur einige wenige voll-
ständig aufgenommen worden, andere bruchstückweise als Proben des
jugendlichen Denkens und Empfinden8 des merkwürdigen Mannes.
9. .0.H.
*) Dr. Ludwig Otto Erlenmayer, geb. 1843 zu MER dr
Bayern, gest. als prakt. Arzt 1883 zu Wiesensteig a. d. Fils (Württem=
berg). Er war mit einer Schwester des Dichters Martin Greif
(Hermann Frey) verheiratet.