A. Allgemeine Lehren. VII Schutz des Besitzes. 33
„verbotene Eigenmacht“, d. h. gegen jede Eigenmacht eines Nichtbesitzers,
mag die Eigenmacht in Besitzstörung oder in Besitzentziehung sich äußern.
Im Falle der Besitzstörung geht der Besitzanspruch auf Beseitigung der
Störung, im Falle der Besitzentziehung auf Rückgabe der Sache durch
den eigenmächtigen Besitzer, bloß auf Grund der Tatsache des Besitzes,
ohne daß ein Recht behauptet zu werden brauchte. Auch der Dieb, den
ein anderer Dieb bestiehlt, kann mit dem Besitzanspruch gegen den jetzt
besitzenden zweiten Dieb durchdringen.
Der Besitz (den das Recht scharf vom Eigentum, der rechtlichen
Sachherrschaft, unterscheidet) besteht lediglich in der tatsächlichen Zu-
gehörigkeit der Sache zu einer Person. Er wird erworben durch tat-
sächlichen, körperlichen Erwerb der Sachgewalt. Nach römischem Recht
war Besitzer im Rechtssinn nur der Besitzer mit Herrenwillen (animus
domini), d. h. nur der Besitzer, der keines anderen Sachgewalt anerkannte.
Nur der Hausbesitzer war Besitzer des vermieteten Hauses, nicht der
Mieter. Jede Eigenmacht des Mieters gegenüber dem Vermieter war
nach römischem Recht verbotene Eigenmacht. Das bürgerliche Gesetz-
buch ist (im Anschluß an die gemeinrechtliche Entwickelung) demokratischer.
Der Herrenwille ist gleichgültig. Es genügt die körperliche Sachgewalt
(das corpus). Der Mieter ist Besitzer geworden. Er hat heute die Besitz-
ansprüche. Er kann keine verbotene Eigenmacht begehen. Vielmehr ist
nach dem bürgerlichen Gesetzbuche jede Eigenmacht des Vermieters
gegenüber dem Mieter verbotene Eigenmacht. Auch der Vermieter
ist nach dem bürgerlichen Gesetzbuche noch Besitzer, aber nur „mittel-
barer“ Besitzer, d. h. sein Besitz wird durch den mieterischen Besitz
Dritten gegenüber vermittelt und ist dem Mieter selber gegenüber un-
wirksam.
Das Eigentümliche der Besitzansprüche ist, daß sie immer nur einen Besitzansprüche,
vorläufigen Schutz gewähren. Der petitorische dingliche und persön-
liche Anspruch geht auf endgültige Befriedigung. Er bringt eine Rechts-
frage zum Austrag. Der Besitzanspruch aber dient immer nur zur vor-
läufigen Regelung der Besitzverhältnisse, nämlich bis zur Entscheidung
der Rechtsfrage. Es bleibt stets der dem einen oder dem anderen Teile
zuständige petitorische Anspruch vorbehalten. Nur solange über die
petitorische Frage (die Rechtsfrage) noch nicht entschieden ist, soll der
Besitzanspruch maßgebend sein. Darum erlischt der Besitzanspruch, so-
bald die verbotene Eigenmacht durch rechtskräftige Entscheidung der
Rechtsfrage nachträglich sachlich gerechtfertigt wird. Nur aus formellen
Gründen ist dem Besitzer der Besitzanspruch zuständig: das Handeln des
anderen hat die Form der verbotenen Eigenmacht. Darum ist der Besitz-
anspruch ein Anspruch unvollkommener Art. Er ist nicht das Recht,
endgültig zu verlangen, sondern nur das Recht, vorläufig zu verlangen.
Er ist kurzlebig und verschwindet, als wenn er nie dagewesen wäre, wenn
er binnen Jahresfrist nicht geltend gemacht wird. Er wurzelt nicht in
DıiE KULTUR DER GEGENWART. II. 8.