Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

RUDOLPH SOHM: System des bürgerlichen Rechts. 
Schluß. 
An den großen Wendepunkten der Rechtsentwickelung offenbaren sich 
deutlicher als sonst die innersten Lebensgesetze, denen Werden und 
Wachsen des Rechts gehorcht. Das Bürgerliche Gesetzbuch bedeutet 
einen solchen Wendepunkt. Der Geist des Privatrechts unserer Zeit hat 
das Wort bekommen. Er redet aus diesem Wogenschlag langhinrollender 
Paragraphenreihen. Was ist es, was er uns verkündet? 
Den „besitzlosen Volksklassen“ ist gesagt worden: Laßt alle Hoffnung 
fahren! Denn alles Recht ist dem Starken zum Raube gegeben. Es ist 
aus Interessenkämpfen geboren. Der Mächtigere siegt. Das seinen 
Interessen Entsprechende setzt sich, so hören wir, zunächst als Gewohn- 
heitsrecht durch, um sodann vom Gesetzgeber lediglich in Form gebracht 
zu werden. Das Recht, auch unser heutiges bürgerliches Recht, stammt 
folglich nicht aus dem Geiste der gesamten Nation. Es ist das Erzeugnis 
nur der begünstigten Volkskreise. Es dient, die Herrschaft des einen 
Fünftels über die besitzlosen vier Fünftel, die Herrschaft der wenigen 
Auserkorenen über die ungeheure Mehrheit, der Starken über die 
Schwachen zu besiegeln. 
Aber wer so redet, der hat die Stimme der Rechtsgeschichte, der hat 
auch die Stimme, die aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch spricht, nicht 
vernommen. 
Das Recht wird immer einzelne Härten, ja Ungerechtigkeiten in sich 
tragen. Das liegt in der Unvollkommenheit alles Menschlichen, ins- 
besondere geschriebener Gesetze mit Notwendigkeit begründet. Niemals 
aber ist das Recht im ganzen ungerecht. Niemals läßt das Recht als 
Ganzes sich zum Werkzeug für die Selbstsucht der Mächtigen erniedrigen. 
Das ist gleichfalls in der Art des Rechts mit eherner Notwendigkeit be- 
gründet. Das Recht lebt nicht durch Polizeigewalt noch durch die Bajo- 
nette der Soldaten. Die Aufrechthaltung der Rechtsordnung durch 
bloßen äußeren Zwang ist zu allen Zeiten ein Ding der Unmöglichkeit 
gewesen: bei den ungeheuer gesteigerten Machtmitteln des heutigen 
Staats ganz geradeso wie in den früheren Jahrhunderten. Das Recht 
lebt durch die Rechtsüberzeugung aller Rechtsgenossen, der besitzlosen 
wie der besitzenden. Auch denen, die theoretisch die Idee vom Zu- 
kunftsstaat im Kopfe haben, ist die bestehende Staats- und Eigentums- 
ordnung (als Ganzes genommen) geltendes Recht. Sie können gar nicht 
anders empfinden, auch wenn sie anders zu denken beabsichtigen. Jedem 
ohne Ausnahme drängt es sich auf als Pflicht, nicht bloß als äußerlich 
erzwungene Notwendigkeit, das empfangene Darlehn zurückzuzahlen, für 
die gemietete Wohnung den Mietzins zu entrichten, das erworbene Eigen- 
tum zu achten. Mit elementarer Naturgewalt leben die grundlegenden 
Ideen, und zwar an erster Stelle gerade des geltenden Privatrechts, 
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