RUDOLPH SOHM: System des bürgerlichen Rechts.
Schluß.
An den großen Wendepunkten der Rechtsentwickelung offenbaren sich
deutlicher als sonst die innersten Lebensgesetze, denen Werden und
Wachsen des Rechts gehorcht. Das Bürgerliche Gesetzbuch bedeutet
einen solchen Wendepunkt. Der Geist des Privatrechts unserer Zeit hat
das Wort bekommen. Er redet aus diesem Wogenschlag langhinrollender
Paragraphenreihen. Was ist es, was er uns verkündet?
Den „besitzlosen Volksklassen“ ist gesagt worden: Laßt alle Hoffnung
fahren! Denn alles Recht ist dem Starken zum Raube gegeben. Es ist
aus Interessenkämpfen geboren. Der Mächtigere siegt. Das seinen
Interessen Entsprechende setzt sich, so hören wir, zunächst als Gewohn-
heitsrecht durch, um sodann vom Gesetzgeber lediglich in Form gebracht
zu werden. Das Recht, auch unser heutiges bürgerliches Recht, stammt
folglich nicht aus dem Geiste der gesamten Nation. Es ist das Erzeugnis
nur der begünstigten Volkskreise. Es dient, die Herrschaft des einen
Fünftels über die besitzlosen vier Fünftel, die Herrschaft der wenigen
Auserkorenen über die ungeheure Mehrheit, der Starken über die
Schwachen zu besiegeln.
Aber wer so redet, der hat die Stimme der Rechtsgeschichte, der hat
auch die Stimme, die aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch spricht, nicht
vernommen.
Das Recht wird immer einzelne Härten, ja Ungerechtigkeiten in sich
tragen. Das liegt in der Unvollkommenheit alles Menschlichen, ins-
besondere geschriebener Gesetze mit Notwendigkeit begründet. Niemals
aber ist das Recht im ganzen ungerecht. Niemals läßt das Recht als
Ganzes sich zum Werkzeug für die Selbstsucht der Mächtigen erniedrigen.
Das ist gleichfalls in der Art des Rechts mit eherner Notwendigkeit be-
gründet. Das Recht lebt nicht durch Polizeigewalt noch durch die Bajo-
nette der Soldaten. Die Aufrechthaltung der Rechtsordnung durch
bloßen äußeren Zwang ist zu allen Zeiten ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen: bei den ungeheuer gesteigerten Machtmitteln des heutigen
Staats ganz geradeso wie in den früheren Jahrhunderten. Das Recht
lebt durch die Rechtsüberzeugung aller Rechtsgenossen, der besitzlosen
wie der besitzenden. Auch denen, die theoretisch die Idee vom Zu-
kunftsstaat im Kopfe haben, ist die bestehende Staats- und Eigentums-
ordnung (als Ganzes genommen) geltendes Recht. Sie können gar nicht
anders empfinden, auch wenn sie anders zu denken beabsichtigen. Jedem
ohne Ausnahme drängt es sich auf als Pflicht, nicht bloß als äußerlich
erzwungene Notwendigkeit, das empfangene Darlehn zurückzuzahlen, für
die gemietete Wohnung den Mietzins zu entrichten, das erworbene Eigen-
tum zu achten. Mit elementarer Naturgewalt leben die grundlegenden
Ideen, und zwar an erster Stelle gerade des geltenden Privatrechts,
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