Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

8 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
Erfahrung zu untersuchen, da in dem Problem des gesellschaftlichen 
Daseins der Menschen der Rechtsgedanke zweifellos auftritt, und in diesem 
die allgemein ermöglichenden Bedingungen für den Begriff des Rechtes 
durch kritische Besinnung festzustellen und in seinem formalen Verhältnis 
zu Moral und Sitte und willkürlicher Gewalt zu bestimmen. 
Rechtszwang. Hierbei tritt jedoch vor allem anderen und von vornherein ein Merkmal 
hervor, das unbestritten dem Rechte als solchem eignet: das Moment des 
rechtlichen Zwanges. Es ist nicht nötig, über dessen Erschaffung und 
Erklärung an dieser Stelle schon eine bestimmte Vorstellung sich zu 
machen, es genügt zum Entwerfen der Fragestellung die Beobachtung, 
daß jede juridische Ordnung, eben in ihrer Eigenschaft als „rechtliche“, 
den Anspruch erhebt, ein ihr widerstrebendes Wollen niederzubeugen und 
das von ihr geregelte Verhalten der Unterstellten auch tatsächlich zu er- 
wirken. Es ist dieser Zwangsanspruch des Rechtes, der dann nicht selten 
einer grundsätzlichen Anzweiflung unterlegen ist, in besonderer Art in der 
Neuzeit von der Theorie des Anarchismus. Und einem solchen Zweifel 
kann wieder nur durch theoretische Begründung des Rechtszwanges 
begegnet werden, eine Begründung, von der in sich klar ist, daß sie auf 
das Wesen des Rechtes in unbedingt allgemeiner Art zurückzugehen 
hat, dagegen nicht auf die Betrachtung des besonderen Inhaltes einer 
bestimmten rechtlichen Ordnung gestützt zu werden vermag. 
Kritische Er- Allein auch wenn jemand gerade den gegebenen Inhalt eines ge- 
N aeeaben m schichtlichen Rechtes kritisch ansieht, so bedarf er zu einem sachlich ab- 
Rechtsinhaltes. Wägenden Urteil eines allgemein geltenden Maßstabes. Denn hier kommt 
der eigene Zweifel, der nie zu unterdrücken ist: Ob eine bestimmte Regel, 
die von Rechts wegen positiv besteht, so denn auch sein sollte? Ent- 
spricht die gerade geltende rechtliche Norm oder Einrichtung in ihrer beding- 
ten Lage dem Gedanken der Gerechtigkeit? Ist unter den vorliegenden 
Umständen diese oder jene Bestimmung des Rechtes die richtige? 
Die Frage nach dem Wesen des Rechtes löst sich daher in drei 
Aufgaben auf: 
ı.. Was ist Recht? Welcher allgemeine Begriff liegt also jeder 
Rechtsbetrachtung unbedingt zugrunde, damit sie überhaupt eine „recht- 
liche“ mit Fug heißen kann? 
2. Begründung der verbindenden Art des Rechtes: Wie ist es 
zu begreifen, daß jedes Rechtsgebot, gleichviel wie sein Inhalt laute, nur 
weil es eine „rechtliche“ Norm ist, Gehorsam richtigerweise fordern darf? 
3. Wann ist der Inhalt einer Rechtsnorm sachlich begründet? 
Was für ein einheitliches Verfahren hat der „rechtlich“ Wollende zu 
beobachten, wenn der besondere Inhalt seines Wollens richtig sein soll? 
Alle drei Probleme haben das gemeinsam, daß sie sich durch das 
bloße Betrachten der Besonderheiten von bestimmten geschichtlichen 
Rechten nicht erledigen lassen. Die hierbei zu entwickelnden Begriffe 
und Lehren haben unbedingt bei jedem denkbaren Rechte Anwendung zu
	        
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