Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
A, Frühere Rechtstheorien, 
Il. Das Naturrecht. Wenn in einer entwickelten Kultur Schäden 
sich zeigen, wenn die bestehenden Zustände in vielem unbegreiflich oder 
auch nur allzu verwickelt werden, so flüchtet gar mancher gern zur 
„Natur“ zurück. Sie ist es, die alsdann einen festen Halt gegenüber 
willkürlichem und entartetem Treiben und Begehren liefern soll. So ist 
auch zu allen Zeiten versucht worden, dem positiv geordneten Rechte 
entgegen, das nur zu oft fehlerhaft und zufällig erschien, ein natür- 
liches Recht zu entdecken, ein Recht, das „mit uns geboren ist“. 
Dieser Gegensatz ist der am meisten besprochene in der ganzen 
theoretischen Betrachtung des Rechtes. Er tritt in besonders scharfer 
und klarer Weise in der Rechtsphilosophie der Griechen hervor, ist dann 
im Mittelalter von der Kirche und der scholastischen Philosophie aufrecht- 
erhalten und gepflegt worden und hat sich in verschiedenen Ausführungen, 
Begründungen und Nutzanwendungen bis in unsere Tage erhalten. Es 
würde an dieser Stelle zu weit führen, den einzelnen Systemen natur- 
rechtlicher Richtung in genauer Darlegung zu folgen; fragt man aber, 
welches der gemeinsam unterliegende Gedanke ist, der freilich weder von 
seinen Vertretern noch seinen Gegnern immer klar ausgesprochen worden 
Naturrecht. ist, so entspricht ihm diese Begriffsbestimmung: Naturrecht ist ein 
Recht, das in seinem Inhalte der Natur entspricht. — Dabei ist 
als „die Natur“, die hier als Maßstab für den Inhalt des Rechtes auf- 
tritt, ein Doppeltes aufgenommen worden: bald die Natur des Menschen, 
bald die des Rechtes. 
Natur des In erster Linie hat man von alters her versucht, die menschliche 
Menschen, Natur zu verwerten. Besonders stark geschah dies, als Hugo Grotius es 
unternahm, in dieser Weise eine allgemeingültige Grundlage des Rechtes 
zu finden, die von jeder Unterstützung durch kirchliche Lehre unabhängig 
sei, und die auch ein Atheist als wissenschaftlich feststehend anzunehmen 
habe, Die Natur dachte man sich dabei als bestimmte Grundeigenschaften, 
die einem jeden Menschen allgemeingültig und in unbedingter Weise zu- 
kämen. Welche Eigenschaften dies jedoch wären, darüber gingen die 
Ansichten ständig weit auseinander. Grotius gab als solche den aßpetitus 
socielatis an, den natürlichen Trieb des Menschen nach dauernder und 
friedlicher Vereinigung mit seinesgleichen, Hobbes umgekehrt die Furcht 
des einen vor dem anderen, aus der in Ermanglung des Rechtes ein 
bellum omnium contra omnes entspringen würde; Pufendorf verwies auf 
den Selbsterhaltungstrieb aller Lebewesen und auf die natürliche Hilf- 
losigkeit (imbecillitas) des Menschen, die ihn zu einer diese überwindenden 
Geselligkeit /socialitas) führen müsse, und Thomasius berichtigte dieses 
in der Aufstellung des menschlichen Grundtriebes, möglichst lang und 
glücklich zu leben. — Und diese Verschiedenheit der Angaben setzt sich 
bis in die neue Zeit fort, in der die Berufung auf „die menschliche Natur“ 
IV
	        
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