Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

VI RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft, 
contrat social. des Rousseau eine geschichtliche Tatsache sein sollte 
und uns die zeitlich erste Entstehung des Rechtes in der Menschen- 
geschichte erzählen möchte; — vielmehr will er eine Formel für.die 
oberste Idee des Rechtes geben und.die allgemeine Richtlinie für ge- 
rechte Gesetze bezeichnen. — Solche seien dann da, wenn sie der 
volonteE generale entspringen. Dies aber ist nicht einfach der Wille aller 
oder der Mehrzahl, sondern bedeutet eine Maxime, welche das Wohl 
aller Menschen überhaupt zur Richtschnur nimmt. Das ist Rousseaus 
Definition der Tugend. Ihr nachzustreben ist das einzige unbedingte Gebot 
für menschliches Wollen. — Für die Betätigung dieses Zieles sei es nötig, 
allen Genossen Anteil an der obersten Gewalt zu geben; es müssen die 
Herrscher mit den Beherrschten zusammenfallen. Darum könne die 
Souveränität nicht vertreten werden; die Abgeordneten des Volkes seien 
also nicht seine Repräsentanten, sondern nur Geschäftsführer, die nichts 
unabänderlich beschließen können. Dagegen bestehe die Vollziehung‘ der 
Gesetze in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall und gehöre folglich 
nicht zum Wirkungskreise des souveränen Volkes, das nur den allgemeinen 
Willen äußere, sondern der Regierung, die als Demokratie, Aristokratie, 
Monarchie nach der Art der rechtmäßigen Ausübung‘ der vollziehenden 
Gewalt verschieden eingerichtet sein kann. 
Der gewaltige Einfluß, den Rousseau auf die Geschichte seiner Zeit 
und durch die französische Revolution auf die folgenden Perioden bis zur 
Gegenwart ausgeübt hat, ist allgemein bekannt. Auch in der Rechts- 
theorie stehen sonst führende Geister, vor allem Kant, ganz unter seinem 
Banne. Erst ziemlich spät hat sich ein prinzipieller Widerspruch finden 
lassen. 
Fehler des Dabei war ein Fehler jener Forschung wahrlich nicht in der Frage- 
Naturrechtes. stellung als solcher gegeben. Von „der Natur des Rechtes“ reden auch 
heute Anhänger der geschichtlichen Rechtsschule und sonst empiristisch 
gerichtete Juristen. Welcher denkende Mann wird denn auf das Nach- 
sinnen über die rechte allgemeine Methode aller Rechtsbetrachtung‘ und 
die Möglichkeit eines festen Haltes gegenüber den zerstreuten Einzelheiten 
verzichten. und sich zum bloßen Techniker begrenzter Paragraphen machen 
wollen! — Der Fehler jener Versuche aus der Aufklärungsperiode lag 
vielmehr in der Art der Ausführung, da sie nämlich ein ausgeführtes 
Rechtsbuch mit einem unwandelbaren Inhalt entwarfen. Das geht nicht 
an. Denn der Inhalt des Rechtes geht auf die Regelung von mensch- 
lichem Zusammenwirken, das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist. 
Alles, was sich aber auf menschliche Bedürfnisse und auf die Art von 
deren Befriedigung bezieht, ist steter Veränderung unterworfen. Es gibt 
keinen einzigen Rechtssatz, der seinem positiven Inhalte nach 
unbedingt feststände. — Statt dessen kann nur die Aufgabe bestehen, 
eine allgemeingültige formale Methode festzustellen, in der man 
den notwendig. wechselnden Stoff geschichtlich bedingten Rechtes dahin
	        
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