Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

X RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
bestimmten Volk und Staat oder auch einer engeren Gemeinschaft gehört, 
aber ebensowohl empfindet er auch, daß er Mensch ist, über nationale 
Grenzen hinaus, und er kann diese Idee der Menschheit für sich nicht 
wegdenken, ohne seinem Dasein die höchste Würde zu nehmen. 
Soweit sich nun aber der einzelne gerade als Mitglied eines be- 
sonderen Menschenkreises fühlt und sich bewußt wird, ein Gemeinschafts- 
leben mitzuleben, so erschöpft sich diese Richtung seines Bewußtseins — 
für die grundlegend systematische Frage — in dem Gedanken der 
gemeinsamen Zweckverfolgung. Das soziale Leben ist ein Zusammen- 
wirken, um den Kampf um das Dasein gemeinsam zu führen. Ein ge- 
meinschaftlicher Zweck ist jedoch etwas qualitativ anderes, als zwei 
einzelne Zwecke. So erhebt der Gemeinschaftsgedanke das Indi- 
viduum zu einer eigenartigen Richtung des Bewußtseins, zu der Hingabe 
an besonders geartetes Wollen. Es sind also individuale und soziale 
Betrachtung zwei qualitativ verschiedene Richtungen des Bewußtseins, 
und es bedeutet die Gesetzmäßigkeit, die im Gedanken der Gemein- 
schaft liegt, die oberste formale Bedingung für die einheitliche Art 
des sozialen Wollens, dagegen nicht eine empirische Größe, die über 
den sozial verbundenen Menschen stände. — Die nationalen Eigentüm- 
lichkeiten aber, von denen wir vorhin ausgingen, gehören überhaupt 
nicht zu den formalen Bedingungen, unter denen der Stoff des ge- 
schichtlichen Rechtslebens einheitlich zu fassen möglich wäre: sie zählen 
vielmehr zu diesem Stoff selber. Sie. bilden ein nicht verächtliches 
Material, das ein jeder Gesetzgeber wohl berücksichtigen soll. Denn er 
hat ja die rechte Art des Zusammenwirkens zu finden und anzuordnen 
und muß darum die historisch bedingten Qualitäten der einer Regel zu 
Unterstellenden in Betracht ziehen, um die letzteren dann in richtiger 
Art bestimmen zu können. 
III. Die materialistische Geschichtsauffassung. Sie bedeutet 
eine Lehre und ein System von Gedanken, die erst in den letzten Zeiten 
genauer und tiefer betrachtet worden sind; sie selbst ist etwa seit zwei 
Menschenaltern vorhanden. Noch immer kann man aber nicht sagen, daß 
die Bekanntschaft mit der materialistischen Geschichtsauffassung zu dem 
regelmäßigen Besitztum der Gebildeten gehöre, Sie ist verhältnismäßig 
wenig bekannt und auch in dem akademischen Vortrage der Disziplinen, 
die sie berührt, nur vereinzelt berücksichtigt. Und doch ist die materialistische 
Geschichtsauffassung das Fundament der bedeutsamsten Bewegung der 
Gegenwart geworden, — des Sozialismus, dessen rechtes Verständnis von 
der nun zu berichtenden Sozialtheorie abhängt. 
Es ist selbstverständlich, daß in diesem Zusammenhang das Wort 
„materialistisch“ nicht in einem vulgären Sinne gebraucht und gleich 
niedrig oder gemein gesetzt werden darf; vielmehr ist es als Theorie 
gemeint, und zwar als Übertragung der Grundgedanken aller Systeme
	        
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