108 FRANZ VON LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
psychologische Betrachtung bezeichnet werden. Dauernden Ruhm aber
hat Feuerbach sich und seinem Vaterland in erster Linie durch seine gesetz-
geberische Tätigkeit gesichert. Als er auf Grund der vernichtenden Krritik,
die er über einen früheren Versuch veröffentlicht hatte, von der bayri-
schen Regierung mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines Strafgesetz-
buches beauftragt wurde, hat er, allen Schwierigkeiten und Hindernissen
zum Trotz, den Stempel seiner Individualität dem bayrischen Strafgesetz-
buch von 1813 aufzuprägen verstanden. Die streng systematische Ordnung
des Stoffes, die Schärfe der Begriffsbestimmungen, der Schutz gegen
richterliche Willkür und andere allgemein anerkannte Vorzüge sicherten
dem Werke Feuerbachs auf Jahrzehnte hinaus den Einfluß auf die Straf-
gesetzgebung anderer Länder. Erfolgreich konnte es den Wettbewerb mit
dem französischen Code aufnehmen, bis dieser erst in Preußen (1851), dann
im neuen Deutschen Reich (1870) die gemein-deutschen Überlieferungen
verdrängte. Und auch heute noch strahlt der Ruhm des bayrischen
Strafgesetzbuches bei den derselben Epoche entstammenden Staatswesen
Mittel- und Südamerikas in ungetrübtem Glanz.
Über diese beiden Grundlagen ist das ganze 19. Jahrhundert nicht
hinausgekommen.
Zwar war die Strafgesetzgebung fast in allen Ländern unermüdlich
tätig. Entwurf folgte auf Entwurf; und gar manchem von ihnen glückte
es, Gesetzeskraft zu erlangen. Aber von neuem Inhalt war in diesen
„neuen“ Strafgesetzbüchern wenig zu finden. Man feilte an den Begriffs-
bestimmungen und wetteiferte in den Abstufungen der Strafdrohung. Im
großen und ganzen drehte man sich im Kreise.
Die deutsche Da und dort finden wir freilich neue Deliktsbegriffe, die durch die
a °“ xeänderten Lebensverhältnisse nahegelegt worden waren. Mit den Dampf-
schiffen, Eisenbahnen und Telegraphen, mit der Verwendung der Spreng-
stoffe oder der elektrischen Kraft zu gewerblichen und anderen Zwecken
bildeten sich neue Gruppen von strafbaren Handlungen; die raschen Fort-
schritte und die damit gegebenen Entartungen des wirtschaftlichen Verkehrs,
die Entwickelung der handelsrechtlichen Gesellschaften, der auf das äußerste
gesteigerte wirtschaftliche Wettbewerb mit seinen Warenfälschungen und
seinem unlauteren Geschäftsgebaren, das immer mächtiger sich entfaltende
Banken- und Börsenwesen machten neue Strafdrohungen notwendig; der
privatrechtlichen Anerkennung der Urheber- und Erfinderrechte auf dem
Gebiet der Kunst und Literatur wie des Gewerbes folgte die Gewährung
des strafrechtlichen Schutzes; und je weiter die Kreise der Lebensbetätigung
gezogen wurden, die der moderne Wohlfahrtsstaat zum Gegenstand seiner
Sorgfalt erklärte, wie etwa die ausgedehnten Gebiete des Arbeiterschutzes
oder der Arbeiterversicherung, desto größer wurde die Zahl der mit Strafen
belegten Äußerungen eigennütziger Gewinnsucht.
So hat das System der Verbrechensbegriffe gar manchen neuen Zweig
angesetzt. Aber der alte Stamm ist unverändert geblieben. Gerade bei