2 FRANZ VON Liszt: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
gesetzbuch von 1851 zugrunde. Da und dort wurden kleine Verbesserungen
angebracht und die Erfahrungen anderer Länder (besonders Sachsens) be-
rücksichtigt. Im ganzen aber kann man ohne jede Übertreibung sagen,
daß das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870
und das diesem durchaus entsprechende Reichsstrafgesetzbuch vom
15. Mai 1871, durch die Vermittelung des Preußischen Strafgesetzbuches von
1851, dem französischen Code penal von 1810 die Herrschaft über das
ganze Gebiet des neu geeinten Reiches gesichert hat.
Das außer- Über das Strafrecht der außerdeutschen Staaten können an dieser
Geutsche Spaf Stelle nur einzelne Fingerzeige gegeben werden.
Am weitesten zurückgeblieben ist die Entwicklung der Strafgesetz-
gebung in den Ländern des englisch-amerikanischen Rechtes. Das eng-
lische Mutterland ist trotz mancher Anläufe und trotz der für Indien und
andere Kolonien ausgearbeiteten Strafgesetzbücher zu einer Kodifizierung
seines Strafrechts überhaupt noch nicht gelangt. Neben verschiedenen
einzelnen Gesetzen (statute law) herrscht hier also auch heute noch das
common law, das aus den Präjudizien der Gerichtshöfe erkannt werden
muß. Die Vereinigten Staaten von Amerika besitzen kein Bundesstraf-
gesetzbuch, wohl aber Gesetzbücher für die meisten Gliedstaaten, in tech-
nischer Beziehung durchweg unvollkommene Arbeiten. Von einer Straf-
rechtswissenschaft im kontinental- europäischen Sinn des Wortes kann
weder in Großbritannien noch in den Vereinigten Staaten gesprochen
werden,
Auch Österreich, dessen Strafgesetzbuch von 1852 lediglich eine ver-
besserte Auflage des alten und veralteten Strafgesetzbuches von 1803 dar-
stellt, hat bisher trotz mehrfacher tastender Versuche die Kraft zu einer
Neugestaltung seiner Gesetzgebung nicht gefunden.
In Frankreich hat die lange Herrschaft des Code penal eine tüchtige
Kommentatorenliteratur gezeitigt, die dogmatisch-systematische Darstellung
ist hinter der deutschen zurückgeblieben. Die Gesetzgebungen von Belgien,
Luxemburg, Rumänien, der französischen Schweiz sowie der Türkei stehen
durchaus unter dem Einfluß des französischen Rechtes. Spanien und
Portugal und die gerade auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung besonders
rührigen mittel- und südamerikanischen Staaten bilden eine besondere
Gruppe, die für die Gesamtentwicklung ohne Bedeutung geblieben ist.
Die deutsche Strafgesetzgebung ist von Einfluß geworden auf Ungarn
(1878) und auf die österreichischen Entwürfe, die sich seit 1874 eng an
das deutsche Vorbild anlehnen. Selbständige Bedeutung, wenngleich unter
Wahrung der alten Grundlagen, besitzen die Strafgesetzbücher für die
Niederlande (1881), für Italien (1889), für Finland (1889) und das noch
nicht in Kraft getretene russische Strafgesetzbuch von 1903.
Wesentlich neue Bahnen sind dagegen eingeschlagen in dem nor-
wegischen Strafgesetzbuch von 1902 (dem Werke von Getz und Hagerup)
sowie in dem Entwurf eines Strafgesetzbuches für die schweizerische Eid-
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