Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

KIRCHENRECHT. 
Von 
WILHELM KAHL. 
Einleitung. Die Anfänge kirchlicher Rechtsbildung bis zum Geburts- Geschichtliche 
jahr der Staatskirche (380) sind in einer früheren Abteilung dieses Werkes SE 
(Teil I, Abt. 4: “Die christliche Religion’) von Adolf Harnack beschrieben. 
Anderthalb Jahrtausend liegt zwischen jenem Kirchenrecht des Theo- 
dosius und der Gegenwart. Es umschließt in die Breite und Tiefe eine 
unermeßlich reiche Entwickelung. 
Zeitlich fast zusammenfallend mit der Gründung der Staatskirche 
war die Teilung des römischen Reiches geschehen (395). Die ersten Um- 
risse der künftigen Trennung eines morgen- und abendländischen 
Kirchenrechts treten hervor, dort mit der Quelle in Byzanz, hier in Rom. 
Endgültig haben sie sich erst in der Mitte des 11. Jahrhunderts geschieden. 
Der hierdurch geschaffene Gegensatz aber ist im großen und ganzen noch 
jetzt durch das griechisch-katholische und das römisch-katholische 
Kirchenrecht dargestellt. | 
Im Abendlande selbst trat knapp ein Jahrhundert nach der Reichs- 
teilung ein Umsturz aller Besitzverhältnisse ein und vervielfältigte die Ent- 
wickelungskreise des Kirchenrechts. Das weströmische Kaiserreich wird 
zerstört (476). Die Kirche und ihr Recht stehen fortan nicht mehr unter 
der schützenden Einheit des Imperium. Sie leben in verschiedenen Staats- 
körpern. Sie treten in den christianisierten germanischen, romanischen 
und nordischen Reichen unter sehr verschiedenartige Entwickelungs- 
bedingungen des Volks- und Staatstums. Es ziehen sich erstmalig die 
Kreise eines nationalen Kirchenrechts. Gleichwohl bleibt seine grund- 
sätzliche Einheit noch für ein Jahrtausend gewahrt. Der inzwischen zur 
Anerkennung gelangte römische Primat und das kanonische Recht 
haben sie gerettet. 
In den beherrschenden Mittelpunkt aller abendländischen Staaten- 
bildungen war die fränkische Monarchie getreten (486). In ihr bilden 
und schließen sich auch die Kreise eines künftigen deutschen Kirchen- 
rechts. An der harten Eigenart des Merowingerreiches schienen zwar 
vorerst die päpstlichen Primatialansprüche noch zu scheitern. Aber schon 
unter den Karolingern dringt durch Bonifatius (680—755) das römische 
Kirchenrecht siegreich vor. Sein Siegeszug wird nicht aufgehalten durch 
die Trennung des Frankenreiches selbst (887). Gegenteilig gewinnt es in 
Rz
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.