Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

238 WILHELM KaAHL: Kirchenrecht. 
der ostfränkischen Hälfte, im älteren deutschen Reich, einen neuen 
Stützpunkt in dem seit Otto dem Großen mit dem deutschen Königtum 
dauernd verbundenen römischen Kaisertum (963). Diese Realunion verhilft 
dem kanonischen Recht zu seiner Stellung als Weltrecht. Zwar tritt 
ihm beschränkend bald ein selbständiges deutsches Reichskirchenrecht 
und seit Ausbildung der Landeshoheit ein vielgestaltetes territoriales 
Kirchenrecht zur Seite. Auch muß es in manchen Staaten, vorab in der 
ehemals westlichen Reichshälfte, in Frankreich, zuzeiten gewaltig um 
seine Herrschaft ringen. Aber die Nationalität hat auch hier die Univer- 
salität nicht aufzulösen vermocht. Das kanonische Recht bleibt das 
Kirchenrecht des Mittelalters schlechthin. 
Zerbrochen wird diese Ein- und Alleinherrschaft erst durch die Refor- 
mation, staatsrechtlich anerkannt seit 1555. Das protestantische 
Kirchenrecht tritt ein. Nunmehr eröffnen sich wiederum neue Ent- 
wickelungskreise. Drei Tatsachen bestimmen ihre Bewegung und Be- 
grenzung: die mit der Reformation notwendig geschehene Lösung der Ein- 
heit von Staat und Kirche, die konfessionelle Scheidung innerhalb des 
Protestantismus, der Dualismus im deutschen Staatensystem. 
Durch die Lösung der Einheit ist fortan die Entstehung und Aus- 
bildung einer interkonfessionellen Staatskirchengesetzgebung be- 
dingt. Durch die innerkirchlich konfessionelle Spaltung entstehen die 
selbständigen Kreise eines lutherischen und reformierten Kirchen- 
rechts, welche anfangs gegensätzlich auseinanderstreben, um sich erst im 
19. Jahrhundert in den Unionen wieder zu nähern. Durch den Dualismus 
des Staatensystems endlich sondern sich endgültig die Kreise eines ge- 
meinen und partikulären Kirchenrechts. Das partikuläre erhält und 
behält das Übergewicht. So schon im älteren Reich. Seine Gesetzgebung 
hat sich kirchenrechtlich mit dem Westfälischen Frieden (1648) wesentlich 
erschöpft. Sein letztes Gesetz, der Reichsdeputationshauptschluß (1803), 
hat mehr nur auflösend in die bestehende kirchenrechtliche Ordnung 
eingegriffen. Im Rheinbund (1806—1813) und Deutschen Bund (1815 bis 
1866) blieb alles Kirchenrecht partikulär. Im neuen Reiche konkurrieren 
wieder Reichs- und Landeskirchenrecht. 
Aufgabe, Ich wiederhole: ein weiter und verschlungener Weg vom Kirchenrecht 
der römischen Staatskirche durch das heilige römische Reich deutscher 
Nation bis ins neue Reich. Ihn zu durchwandern ist hier die Möglichkeit 
nicht. Nur eben wenige auf der Höhe stehende Grenzsteine mußten den 
äußeren Gang der Entwickelung weisen. Denn auch das Kirchenrecht ist 
nur als geschichtlich gewordener und bedingter Bestandteil des Kultur- 
lebens der Gegenwart zu verstehen. Seine Würdigung in dieser, wie die 
Bestimmung seiner Ziele für die Zukunft, hat sich gewissenhaft diese ge- 
schichtliche‘ Gebundenheit vor Augen zu halten. Beide ermangeln sonst 
der Unbefangenheit in Kritik und Prognose. Die hier gestellte Aufgabe 
umfaßt aber nicht die Geschichte selbst, sondern ihr in lebendiger An-
	        
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