272 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
fertigten Mißtrauen gegen die preußische Union, welches großzügigen,
auf den engeren Zusammenschluß der deutschen evangelischen Landes-
kirchen gerichteten Bestrebungen nicht geringe Schwierigkeiten entgegen-
setzt, ihnen mindestens eine Notwendigkeit der Vorsicht und Reserve auf-
erlegt, die es bisher zu der erfolgsbedingenden volkstümlichen Begeisterung
für die großen kirchlichen und nationalen Ziele jenes Zusammenschlusses
nicht hat kommen lassen. Um so bestimmter ist für Gegenwart und Zu-
kunft die Unterscheidung der Rechtstitel und Grenzen festzulegen. Unions-
gestaltungen gehören zunächst grundsätzlich in das Zuständigkeitsgebiet
der Kirche, nicht des Staates. Eine prohibitive Einwirkung kann dem
Staate höchstens hinsichtlich der Stufe der sog. Verfassungsunion,
d.i. der Einrichtung gemeinschaftlichen Kirchenregiments für beide Kon-
fessionen, insoweit zustehen, als der Staatsgesetzgebung überhaupt eine
geschichtlich begründete und positiv rechtlich begrenzte Beteiligung an
der Fortbildung der evangelischen Kirchenverfassung zukommt. Unbedingt
gilt dagegen der Grundsatz des Ausschlusses der Staatskompetenz für die
höheren Stufen der Kultus- und der Lehrunion. Aber auch soweit für
diese die Zuständigkeit der Kirchengewalt allein begründet ist, sind durch
die Entwickelung der Synodalverfassung Schranken gezogen, welche
die Wiederkehr gewissensverletzender Eingriffe in das geschichtliche Recht
der Konfessionen ausschließen. Die Generalsynode der preußischen Evan-
gelischen Landeskirche hat seit 1891 zu wiederholten Malen die feierliche
Erklärung und Versicherung der Unantastbarkeit des konfessionell landes-
oder provinzialkirchlichen Bekenntnisstandes abgegeben. Dadurch und
durch die einwandsfrei gerechte Praxis des preußischen Kirchenregiments
sollten endlich die Quellen jenes Mißtrauens geschlossen werden können.
Wer innerlich überzeugt ist, daß die Erhaltung und Mehrung des Wahrheits-
gehaltes der Reformation im edelsten und besten Sinne eine Kultur-
bedingung für Gegenwart und Zukunft bildet, muß in der allmählichen
Lösung der Spannung zwischen den evangelischen Konfessionen auch
in Wahrheit eine dankbare und wichtige Kulturaufgabe erkennen und
ergreifen. Durch die Mittel des Rechts 1äßt sich diese Spannung freilich
nicht lösen. Aber das Recht allein schafft die Voraussetzungen und
Garantien, unter deren Schutz die Überwindung der Gegensätze von innen
heraus gelingen kann. Aus diesem Grunde ist es so ungemein wichtig,
daß auch die für das äußerlich paritätische Verhältnis der Kirchen-
gesellschaften maßgebende Rechtsordnung im Geiste gerechter Freiheit
und Gebundenheit aufgerichtet sel.
Die hier berührten Gedankenkreise haben unvermeidlich bereits in
das Verhältnis der Kirchen zum Staat hinübergeführt. Dieses Problem ist
abschließend noch selbständig in Betracht zu ziehen.
Kirchen und V. Kirchen und Staat. Der universalgeschichtliche Entwickelungs-
Staat. ang zeigt zwei Grundverhältnisformen von Staat und Kirche: ihre Einheit