XXI RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft,
besten — als „Zweckwissenschaft“ oder auch sonstwie bezeichnet; denn
es soll hier ja nur betont: werden, daß bei der Grundfrage nach richtigen
Zwecken in der Ausführung alsbald die zwei besonderen Aufgaben
auftreten, die wir nannten, und von denen wir nun der des rechten
sozialen Wollens in erwähnter Richtung näher treten.
C. Begriff und Geltung des Rechtes.
I. Recht und Sitte. Es ist nun das im vorhergehenden genau
umschriebene Gebiet des sozialen Wollens, in dem sich der Begriff des
Rechtes zeigt. Denn dieser Begriff ist als eine Regelung des Zusammen-
wirkens gemeint. Er stellt sich mithin als ein Wollen dar, das auf
Verfolgung gemeinsamer Zwecke durch die dadurch verbundenen
Menschen gerichtet ist. Innerhalb dieser einen Art des Wollens, der sozialen,
scheidet sich wiederum das Wollen des Rechtes von dem der Sitte.
Begrifflicher Diese Gegenüberstellung wird als solche überall in selbstverständlicher
En ı Art empfunden. Doch erst in der neueren Zeit sind energische Versuche
Sitte. zu verzeichnen, den Unterschied in seiner begrifflichen Schärfe klarzu-
legen. Dabei wird es nicht genügen, über das genetische Verhältnis
beider Regelarten gewisse allgemeinere Erfahrungen aufzustellen. Man hat
gemeint, daß die soziale Regelung zeitlich mit der Sitte beginne und dann
festgelegte Bräuche und Gewohnheiten allmählich in rechtliche Sätze
übergingen; und es findet sich der Vergleich, daß die Sitte die „Knorpeln“
in der Organisation der menschlichen Gesellschaft darstellte, die nach und
nach in die „Knochen“ des Rechtes übergingen. Aber solche Verall-
gemeinerungen einzelner sozialer Ereignisse sind nur von komparativer
Gültigkeit. Es läßt sich niemals voraussehen, ob nicht eine entgegen-
stehende Beobachtung für Vergangenheit oder Zukunft gemacht werden
würde. Und es setzt jene genetische Art der Schilderung die syste-
matische Trennung der beiden Begriffe immer schon voraus: Wenn man
den formalen Begriff von Sitte und von Recht nicht besäße, so würde
ja auch niemals mit Grund gesagt werden können, daß „etwas“ früher mit
dem einen und später mit dem anderen Begriff zu bestimmen sei. Und
falls sich in der Literatur Sätze finden, wie „Sitte wird allmählich zum
Recht und Recht zur Sitte“, „das Recht verändert die Sitten“ u.a.m., SO
wird ein begrifflicher Unterschied vorausgenommen und logisch durch-
geführt; so daß es doch auch möglich sein muß, die wesentlichen Merk-
male einer solchen Scheidung allgemeingültig festzustellen.
Nun geht es aber auch nicht an, den gedachten begrifflichen
Unterschied von Recht und Sitte überhaupt durch Zerteilung des Inhaltes
von gewissen sozialen Regelungen wiederzugeben. Denn dieser besondere
Inhalt unterliegt einem unaufhörlichen und unvermeidlichen Wechsel: Nur
der Gegensatz der formalen Bedingungen in der Einteilung von Recht
und Sitte bleibt stetig und unveränderlich, die besonderen Bestimmungen