C. Begriff und Geltung des Rechtes, I. Recht und Sitte, XXI
des geschichtlichen Stoffes nach jenen festen bedingenden Merkmalen sind
niemals unbedingt abgeschlossen. Die Kleiderordnungen, die Gesetze über
die Art von Festlichkeiten bei Hochzeiten, Kindtaufen, ja sogar die
Formen der Verlöbnisse wurden in früheren Zeiten häufig als rechtliche
Satzungen aufgestellt, während sie heute zumeist der Sitte überlassen sind;
und wir besitzen umgekehrt im Verkehre der Gegenwart, beispielsweise
im neuzeitlichen Völkerrecht, manche Rechtssätze, deren Inhalt man in
alten Tagen nur als konventionale Gebräuche ohne juristischen Charakter
gelten ließ. Das Grüßen auf der Straße geschieht bei uns gewöhnlich nur
nach Brauch und Sitte, aber es kann etwa im Beamten- und Militär-
verhältnis mit rechtlichen Folgen ausgestattet sein. Die Frage der Sonn-
tagsruhe oder die Beobachtung ritualer Vorschriften mag bald mit
erheblicher rechtlicher Bedeutung auftreten, bald ohne sie zu be-
merken sein.
Ein Versuch einer abstrakten Zerteilung der genannten Begriffe würde
darin gelegen sein: daß das Recht von dem „Staate“ ausginge, während
die Sitte von der „Gesellschaft“ ohne „Organisation“ geschaffen würde.
Allein dem steht entgegen, daß der Begriff des Staates selbst nur eine
bestimmte „rechtliche“ Verbindung besagt und darum dem Begriffe des
Rechtes logisch untergeordnet ist. Auch heißt „organisieren“ weiter nichts,
als unter Regeln vereinigen, so daß wir hierin ein dem sozialen Wollen
gemeinsames und kein seine beiden jetzigen Arten unterscheidendes
Merkmal hätten.
Das allgemeingültige Merkmal, nach dem Recht und Sitte formal sich Der Sinn des
scheiden, kann nur in dem Sinne des Geltungsanspruches beider Se
Regelarten gelegen sein. Das Recht will formal als selbstherrliches
Wollen gelten. Es erhebt den Anspruch, unabhängig von der Zustimmung
der Rechtsunterworfenen über diesen zu stehen. Es bestimmt selbst, wer
ihm unterworfen ist, wann jemand in den Verband eintritt oder aus diesem
zu entlassen ist. Die Sitte besteht dagegen in dem formalen Sinne
einer bedingungsweisen Einladung, sie gilt ihrem eigenen Sinne nach
nur hypothetisch, bloß zufolge der Einwilligung der Unterstellten, sei es
auch einer stillschweigend gegebenen. Vielleicht übt sie allerdings im
besonderen Tatbestande einen so starken Druck aus, daß der Angeredete
sich dem kaum entziehen kann; und es kann ein solcher konventionaler
Zwang sogar zu einem Widerstreite mit einem Gebote des Rechtes führen,
z. B. in Fragen der Herausforderung zum Zweikampf. An dieser Stelle
handelt es sich aber nicht um beschreibende Schilderung wirklicher Vor-
gänge und vergleichsweise Abschätzung tatsächlicher Einflüsse auf diesen
oder jenen Menschen, sondern um das logische Kriterium, nach dem es
möglich ist, zwischen Recht und Sitte einen allgemein gültigen formalen
Unterschied festzustellen und den zwischen diesen beiden Klassen sozialer
Regelung seit langem mehr dunkel empfundenen, wie deutlich eingesehenen
Gegensatz in wissenschaftlicher Klarheit zu beherrschen.