Full text: Systematische Rechtswissenschaft (Teil 2, [Häflte 2], Abteilung 8)

334 PAUL LABAND: Staatsrecht. 
unter dem kaiserlichen Oberbefehl und viele andere Einrichtungen schließen 
die einzelnen Staaten so fest aneinander, daß sie immer mehr miteinander 
verwachsen und, ohne ihre individuelle Existenz aufgeben zu müssen, sich 
immer enger vereinigen. Die Gefahr eines Zusammenbruchs des Reiches, es 
sei denn infolge eines unglücklichen Krieges, ist ausgeschlossen und die Unter- 
drückung der Einzelstaaten und ihre Aufsaugung durch das Reich ist zur 
Erfüllung der nationalen Aufgaben und zur Befriedigung der politischen Be- 
dürfnisse des deutschen Volkes unnötig. Das Nationalgefühl des Gesamtvolkes 
und das Staatsbewußtsein der Bevölkerungen der Einzelstaaten stehen nicht 
mehr in einem unversöhnlichen Gegensatz, sondern ergänzen sich einander. 
Schwieriger ist es, eine Ansicht darüber zu gewinnen, wie sich das 
Verhältnis zwischen den obersten Organen des Reiches weiter entwickeln 
wird. Der von manchen Seiten ausgesprochene Gedanke, das allgemeine 
gleiche Wahlrecht zu beschränken, wird von ernsthaften Politikern wohl 
niemals in Betracht genommen werden. Politische Rechte kann man den 
breiten Massen des Volkes nicht wieder nehmen; jeder Versuch einer Be- 
schränkung des Wahlrechts würde das Reich in seinen Grundlagen er- 
schüttern und seine Existenz bedrohen; er wäre undurchführbar und selbst 
wenn er unter besonderen, nicht vorher zu sehenden Umständen durch- 
geführt werden sollte, würde er eine Verbitterung und Reichsfeindschaft 
der überwiegenden Mehrheit des Volkes zurücklassen, welche für das 
Reich eine dauernde Gefahr bilden würde. Auch würde es weder der 
Billigkeit noch der Wohlfahrt des Reiches entsprechen, den Agrariern 
und Großindustriellen den alleinigen oder überwiegenden Einfluß auf die 
Gesetzgebung und die Ausbeutung der arbeitenden Klassen einzuräumen. 
Das allgemeine Wahlrecht aber führt zu einer fortschreitenden Demokrati- 
sierung des Reichstags, da die niederen Klassen naturgemäß sich in einem 
viel höheren Grade vermehren als die oberen und daher das Stimmen- 
verhältnis sich fortwährend zu ihren Gunsten verschiebt. Darauf muß man 
rechnen, denn es ist unabwendbar. Um so wichtiger ist es aber zu ver- 
hüten, daß die Macht des Parlaments nicht noch mehr anwächst, als es 
bereits geschehen ist; denn Parlamentarismus ist nicht Freiheit und Ge- 
rechtigkeit, sondern Parteiherrschaft. Wenn das Parlament die Regierung 
beherrscht, wird diese schließlich eine von der Majorität eingesetzte Ver- 
waltungskommission. Das Mittel aber, durch welches das Parlament seine 
Macht fortwährend steigert, ist die Bewilligung neuer Steuern und Ab- 
gaben. Eine Regierung, welche immer mit der Forderung größerer Geld- 
mittel an das Parlament herantritt, gerät notwendig in Abhängigkeit von 
demselben. In der festen Ordnung‘ der Finanzwirtschaft, in der dauernden 
Ausgleichung der Ausgaben und Einnahmen liegt der Angelpunkt für die 
Richtung, welche die Entwickelung des Verfassungsrechts einschlagen 
wird; sie wird auch im Reichstag selbst den Parteikämpfen einen großen 
Teil ihrer Schärfe nehmen. In der auswärtigen Politik und in der Finanz- 
politik liegt die Zukunft des Reiches.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.