B. Kulturpflege. IX. Die Volkswirtschaftspflege. 423
Pfandleihanstalten begann der Staat in die Hand zu nehmen. Die Städte
folgten derselben Tendenz und übernahmen die Straßenbahnen, die Ver-
sorgung mit Gas, Elektrizität, Trinkwasser, Arbeitsvermittelung, dazu
allerlei Bildungs- und Sanitätsanstalten, wie oben gezeigt.
Diente bisher der Staats- oder Kommunalbetrieb vorwiegend Finanz-
zwecken, so verlangte man ihn zu Ende des letzten Jahrhunderts mehr und
mehr, um der Ausbeutung des Publikums durch die Privatunternehmer ein
Ende zu bereiten, die das liberale System nicht nur nicht verhindert,
sondern geradezu gewollt hat, um „Reichtum“ in der Bevölkerung zu
schaffen. Damit entstand, wie schon erwähnt, nun eine ganz neue Tarif-
politik, welche auf möglichste Herabsetzung‘ der Gebührensätze, zum Teil
sogar auf völlige Unentgeltlichkeit gerichtet war. Letztere ist. freilich
selten wirklich erzielt worden, wie z. B. bei Straßen und Brücken. Daß
dies Bestreben dann mit dem Finanzzweck bald in Konflikt kommen mußte,
liegt auf der Hand. Übrigens haben derlei Konflikte keine tiefere Bedeu-
tung. Ohne Zweifel werden dieser Bewegung über kurz oder lang alle
Privatmonopole und -privilegien zum Opfer fallen, am ersten wohl die
Privateisenbahnen. Von dem gleichen Schicksal sind aber auch jene Privat-
unternehmungen bedroht, denen es gelungen ist, sei es vermöge zufälliger
natürlicher Umstände (Bergwerke, Heilquellen), sei es infolge von Kartellen
oder Trusts sich ein faktisches Monopol zu sichern.
Die Übernahme solcher Betriebe durch Staat und Stadt auf dem Wege
der Expropriation ist desto wahrscheinlicher, je unentbehrlicher die von
ihnen erzeugten Artikel sind (Kohle, Petroleum), oder je mehr sie sich
wegen Gesundheitsgefährlichkeit des Betriebes (Zündhölzchen) oder aus
anderen sozialpolitischen Gründen empfiehlt.
So wird man denn wohl im 20. Jahrhundert den Bergwerksbetrieb,
mindestens auf Kohle und Petroleum, die Verwertung der Wasserkräfte,
die städtischen Trinkwasserleitungen, die Bereitung von Gas, Elektrizität,
Branntwein, die Produktion oder doch den Handel mit gewissen Nahrungs-
mitteln, z. B. Milch, dann den Betrieb ärztlicher Tätigkeit, der Apothekerei,
des Begräbniswesens (wie jetzt schon mehrfach in der Schweiz), die Dienst-
und Arbeitsvermittelung, einzelne Teile des Versicherungs- und Bank-
wesens in staatliche oder kommunale Hände, teils mit, teils ohne Monopol
übergehen sehen.
Je mehr sich nun Staat und Gemeinden im 20. Jahrhundert demokrati- Die zu erwarten-
sieren werden — und das ist eine vorläufig unaufhaltsame Tendenz unseres en ehe
öffentlichen Lebens — desto mehr müssen die Steuern und Gebühren der und
besitzlosen Klasse zugute kommen, desto mehr muß sich die Stellung der *"° "orsetzung
Arbeiter in den Staatsbetrieben verbessern, desto mehr sich ihre Position 20. Jahrhundert.
jener der Staatsbeamten annähern, und wie sehr dies auf die Lage der
Arbeiter in den Privatbetrieben zurückwirken muß, ist schon oben S. 401
hervorgehoben worden. Es verschlägt wenig, daß in dieser Beziehung der-
selbe Konflikt zwischen Finanzpolitik und Sozialpolitik, wie bei den Tarifen