434 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
Auch zeigt die Geschichte, daß sie leicht zum Rechtsbrauch wird und
damit den Charakter des Herkommens annimmt,
Die Dieses nun hat als die einzige wahre Quelle des Völkerrechts zu
Präzedenzfälle. —1t9n, Das Völkerrecht lebt in der Übung der sich als völkerrechtliche
Personen anerkennenden Staatsvölker. Wir verstehen unter dem völker-
rechtlichen Herkommen das Gewohnheitsrecht im Bereiche des durch die
Regierungen vermittelten Staatenverkehrs. Die Merkmale desselben er-
geben sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Demnach gehört zum
Erweise einer als rechtlich bindend zu betrachtenden Usance die inner-
halb des internationalen Verbandes nachweisbare Befolgung einer Regel
seitens der Staatsgewalten, sofern sie sich in der Überzeugung vollzieht,
nicht anders zu können, sondern einer rechtlichen Anforderung zu
genügen. Die Erkenntnismittel sind mannigfaltig. Als Präzedenzfälle
können dienen Staatsakte aller Art, insbesondere übereinstimmende Vor-
schriften der Landesgesetze, gleichmäßige Festsetzungen der Staatsverträge,
im Einklang stehende Entscheidungen der Gerichtshöfe, oder der mit
internationalen Streitfällen befaßten Schiedsgerichte. Vornehmstes Er-
kenntnismittel ist die Wissenschaft. Nur beschränkt sich ihre Bedeutung
nicht auf Fixierung und methodische Bearbeitung des überlieferten Stoffes.
Vielmehr hat sie von jeher ihren Beruf darin gefunden, das Bewußtsein.
der Kulturvölker mit völkerrechtlichen Anschauungen zu erfüllen und
damit für Befestigung, Erweiterung und Vervollkommnung der völker-
rechtlichen Ordnung schöpferisch zu wirken.
B. Die Mitglieder des völkerrechtlichen Verbandes.
Das Il. Entstehung, Untergang, Kontinuität des Staates. Auf die
N ubhrn Frage, unter welchen Voraussetzungen ein menschlicher Verband das
Recht hat als Staat, also als Mitglied des völkerrechtlichen Verbandes, an-
erkannt zu werden, erteilt die in demselben geltende Rechtsordnung eine
sehr bestimmte Antwort. Dreierlei ist erforderlich und hinreichend. Einmal
muß vorhanden sein ein Volk, d. h. eine in rechtlicher Gemeinschaft zu-
sammenlebende, eine höchste Gewalt als rechtlichen Ausdruck ihres.
Gesamtwillens tatsächlich anerkennende Menschenmenge. Wie diese
Gemeinschaft sich gebildet habe, ob in legitimer Weise oder durch Rechts-
bruch; welches Band außer dem politischen ihre Mitglieder umfasse, sei
es das der Rasse, der Nationalität, der Religion, der Gesittung, ist
völkerrechtlich irrelevant. Sodann aber muß die höchste Gewalt, um als.
Staatsgewalt zu gelten, eine souveräne sein, d. h. im Verhältnis zu den
Volksgenossen über Inhalt und Umfang ihrer Wirksamkeit kraft eigenen.
Rechtes mit Ausschließlichkeit bestimmen, Hierbei mag sie verpflichtet sein,
die Motive ihrer Entschließungen von einer fremden Autorität zu empfangen;
und es besteht die Möglichkeit, daß sie völkerrechtlich gebunden ist,