4972 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
ein Übergang in den förmlichen Kriegszustand sehr nahe gerückt wird.
Dieser aber erscheint als das letzte Mittel, um Genugtuung für erlittenes
Unrecht und Schutz vor drohender Rechtsverletzung zu erzwingen, Daß er für
solchen Zweck sich als ein prekäres, maßloses, nur für den Starken ver-
wendbares Mittel darstellt, liegt in der die Bedeutung eines rechtlichen
Zwangsmittels weit überragenden Natur des völkerrechtlichen Krieges.
Internationale IV. Das schiedsrichterliche Verfahren. Um die Anwendung
Schiedsgerichte „Si kerrechtlicher Zwangsmittel zur Abwehr von Rechtsverletzungen auf
die äußersten Fälle zu beschränken, haben im Streit befindliche Regierungen
schon vom Mittelalter her sich vielfach des Kompromisses (Austrags-
verfahrens) bedient. In neuerer Zeit ist vielfach eine Verpflichtung hierzu bei
Abschluß von Staatsverträgen durch die sog. kompromissarische Klausel
übernommen worden. Die letzten Jahre haben eine große Zahl allgemeiner
Schiedsverträge gebracht, wofür die zwischen Großbritannien und Frank-
reich geschlossene Übereinkunft vom ı4. Oktober 1903 vorbildlich geworden
ist. Sie nimmt bezeichnenderweise solche Streitfälle aus, welche die
vitalen Interessen, die Unabhängigkeit, die Ehre der vertragenden Teile
oder die Interessen dritter Mächte berühren. Eine organisatorische Ein-
richtung‘ der völkerrechtlichen Schiedsgerichtsbarkeit hat nunmehr ein
großer Staatenverein, zunächst für seine Mitglieder, getroffen, welcher in
Gemäßheit der auf der Haager Konferenz am 29. Juli 1899 abgeschlossenen
(ersten) Convention pour le röglement pacıfique des conflits internationaux
ins Leben getreten ist. Ihm gehören an (31. Dezember 1905) 25 Mächte.
Es ist eingesetzt worden eine ständige Cour permanente d’arbitrage mit
dem Sitze im Haag, welche angerufen werden kann durch Schiedsvertrag
der im Rechtsstreit befindlichen Parteien. Für jeden Einzelfall wird das
Tribunal aus dem Schiedshof gebildet. Dieses entscheidet ex appliqguant les
princıpes du droit international. Als ständige Organe fungieren ein inter-
nationales Bureau und ein ständiger Verwaltungsrat.
G. Die Organisation des amtlichen Staatenverkehrs.
Überblick I. Die Diplomatie. Seitdem die europäischen Mächte sich nach dem
Zerfall der mittelalterlichen Ordnungen zu einer großen Staatenfamilie
vereinigt wußten, empfanden sie das Bedürfnis behufs Unterhaltung ihrer
Gegenseitigkeitsbeziehungen, deren sorgfältige Pflege als eine wesentliche
Bedingung für die innere Wohlfahrt erschien, in regelmäßigem Verkehr
miteinander zu stehen. Da nun hierfür weder die Absendung von Boten,
noch die schriftliche Korrespondenz von Behörden, noch persönliche
Zusammenkünfte der Souveräne oder ihrer Räte als ein angemessener
und ausreichender Weg erschien, so hat sich seit dem 15. Jahrhundert,
ausgehend von Italien, der Heimat moderner Politik, eine besondere amt-
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