Full text: Einleitung in die Philosophie

86 $10. Die praktischen Probleme in der dogmatischen Philosophie. 
Belang sind, also alle Fragen der individualen Ethik un- 
beantwortet läßt. Man kann diesem Einwande begegnen mit 
dem Hinweis darauf, daß unsere individuelle Entwicklung stets 
Folgen für unsere Mitmenschen hat und daß diese Folgen um 
so ersprießlicher sein werden, je höhere Cultur wir uns an- 
eignen — daß also die Forderung, ums im Sinne höchster 
Cultur zu entwickeln, durch die Mifleidsmoral bedingt werde. 
Ob diese Behauptung richtig ist, wäre freilich erst zu beweisen. 
Aber. dieser Beweis selbst könnte erst gelieferk werden, wenn 
ein zweiter, bedenklicherer Mangel der Mitleidsmoral gehoben 
wäre: der Mangel nämlich, daß sie keinen Maßstab für den 
Wert derjenigen Zustände liefert, auf deren Hervorbringung 
unsere Handlungen sich richten sollen. Ob ich die Beseitigung 
augenblicklichen. Schmerzes in einem gegebenen Falle veran- 
Jassen soll, oder ob ich im Gegenteil sogar diesen Schmerz 
verursachen soll, weil dadurch anderweitige Interessen gefördert 
werden, darüber gibt das Princip keine Auskunft. Die Frage, 
ob etwa der Zahnarzt dem Patienten aus Mitleid den Schmerz 
ersparen soll, den das Entfernen einer schadhaften Wurzel 
verursacht, wird freilich jeder sogleich ohne Rücksicht auf 
irgend eine Moraltheorie beantworten. Im Mitleidsprineip als 
solchem aber ist die Antwort nicht enthalten: daß dauernde 
Befreiung von Schmerz wertvoller ist als die Vermeidung 
des einmaligen Schmerzes der Operation, ist aus dem Prineip 
nicht zu folgern. Dieses versagt also schon im einfachsten 
Falle eines durch das Mitleid selbst geschaffenen praktischen 
Conflietes seinen Dienst für die Lösung dieses Conflictes. 
Man sieht, daß die Mitleidsmoral gerade alle diejenigen 
Fragen ungelöst läßt, an deren Auftreten der egoistische 
Hedonismus scheiterte. Auch sie bedarf also zum mindesten 
einer Ergänzung durch anderweitige Betrachtungen. Da aber 
erst diese Betrachtungen den entscheidenden Wertmaßstab für 
unser Handeln liefern müssen, so ist nicht vorauszusehen, 
ob von deren Ergebnis das Mitleidsprineip selbst unberührt 
bleiben wird. 
Nicht besser als die Mitleidsmoral vermag der mit ihr 
nahe verwandte Utilitarismus uns in den praktischen Fragen 
den Weg zu weisen.
	        
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