Full text: Einleitung in die Philosophie

8 12. Sein und Schein. Die elcatische und die heraklitische Weit. 95 
wissenschaftlichen Denkens meist nur zur Formulierung, von 
Maximen, die auf den herkömmlichen timetischen Normen des 
Handelns, auf Gesetz und religiöser Überzeugung fußen. Eine 
ethische Theorie, die ihrerseits von metaphysischen Specula- 
tionen unabhängig entstanden, umgekehrt als Grundlage meta- 
physischer Ansichten diente, mag vielleicht die Lehre des 
Pythagoras gewesen sein, von deren Inhalt Sicheres kaum 
mehr festzustellen. ist; als leitendes Prineip derselben läßt sich 
mit einiger Wahrscheinlichkeit die harmonische Gestaltung 
des Lebens bezeichnen, die zu dem hedonistischen Streben 
der ungebildeten Menge in ausdrücklichen Gegensatz gestellt 
wurde. 
812. Sein und Schein. Die eleatische und die heraklitische Welt. 
Die consequente Weiterbildung des Gedankens, durch 
welchen die erste Befriedigung des Erklärungsbedürfnisses ge- 
wonnen war, führt zunächst zu einem überraschenden Ergebnisse. 
Die Gesamtheit aller Erscheiuungen war auf das einheit- 
liche, beharrliche Sein zurückgeführt worden: aus diesem ein- 
heitlichen Prineip sollten alle Tatsachen ihre Erklärung finden. 
Nur in eben diesem einheitlichen, beharrlichen Sein konnte 
hiernach das wahre Wesen der Welt gesucht werden. Nur 
durch die Kenntnis dieses Prineips erhalten wir ja Aufschluß 
über die wirkliche Beschaffenheit alles Daseins, nur in ihm be- 
sitzen wir also eine Erkenntnis des wahren Sachverhaltes, 
Die gesamte Welt der mannigfaltigen Erscheinungen tritt 
eben hierdurch zu jenem ihr zu Grunde liegenden einheit- 
lichen Sein in einen Gegensatz, der für unser Erkennen einen 
Wertgegensatz darstellt: die Erscheinungswelt erweist sich 
als eine für unser Erkennen minderwertige, als eine Welt 
„bloßer“ Erscheinungen, weil sie uns eben jenes wahre, eim- 
heitliche und beharrliche Sein nicht unmittelbar erkennen 1äßt. 
Denu unmöglich kann jeraals dieses wahre einheitliche Sein in 
den Erscheinungen gefunden werden, deren Vielheit und Ver- 
änderlichkeit der Einheitlichkeit und Beharrlichkeit des wahren 
Seins widerspricht, 
Zeigen uns aber hiernach die Erseheinungen nicht das
	        
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