98 812. Sein und Schein. Die eleatische und die heraklitische Welt,
ständliche Bedingung der Erscheinungswelt und deshalb als
das primäre, als das eigentliche Wesen der Welt voraus-
gesetzt und. folgerichtig die Erscheinungswelt, die uns dieses
wahre Sein nicht enthüllt, zu einer Fälschung der Welt, zur
bloßen Täuschung herabgewürdigt.
_ Die letzte Consequenz dieser Überlegung müßte zur Be-
schränkung ‚der Forschung auf die begriffliche Bestimmung
jenes einheitlichen Weltgrundes und zur völligen Gleichgültig-
keit gegenüber der als trügerisch erkannten Erscheinungswelt
führen. Die Tatsache aber, daß die letztere sich trotz jener
speculativen Ergebnisse wieder und wieder unseren Sinnen
aufdrängt und so das Resultat des philosophischen Denkens
durch ihr handgreifliches Dasein praktisch zu entwerten scheint,
drängt zum positiven Kampfe gegen ihren .angemaßten Besitz-
titel. Die Beweisführung, welche die Realität der Erschei-
nungswelt bestreitet, bleibt daher nicht auf jene allgemeinen
Überlegungen beschränkt. Sie verfolgt vielmehr die scheinbar
selbstverständlichen Eigenschaften der Erscheinungswelt in ihre
letzten. Consequenzen und hofft die tatsächliche Unmöglich-
keit der Erscheinungswelt darzutun, indem sie die Wider-
sprüche aufzeigt, auf die sie sich durch die Voraussetzung der
Realität jener Eigenschaften geführt sicht.
Die bewußte Entwicklung der soeben allgemein bezeich-
neten Consequenzen der naturalistischen Metaphysik ist die
Leistung der eleatischen Schule. Xenophanes, der den
Begriff der deu von der milesischen Schule überkommen
haben mag, identificierte das Weltprineip —- unter Betonung
seiner Einheitlichkeit — mit dem Gottesbegriff und
ersetzte folgerichtig die Vielheit der Götter durch eine ‚ein-
heitliche Gottheit, die er von anthropomorphen Zutaten zu
befreien und mit den Eigenschaften auszustatten suchte, welche
dem einheitlichen, wahren Sein zukommen. müssen. Dieses
einheitliche göttliche Urwesen bleibt jedoch auch bei Xeno-
phanes mit naturalistischen Bestimmungen behaftet. Nicht
bloß wird die göttliche dox%u als eine objectiv beharrlich
existierende selbstverständlich vorausgesetzt, sondern es wird
ihr auch ein räumlich-körperliches Dasein zugeschrieben.