Full text: Einleitung in die Philosophie

Rationalistische Ethik. 145 
Hedonismus entgegengesetzten Strömungen auf, welche von 
verschiedenen Ausgangspunkten her zu dem gleichen Endziele 
führen. Die ersten und zugleich extremsten Repräsentanten 
einer im Grunde timetischen, in ihrer Ausführung aber eudä- 
monistischen Tugendmoral*) sind die Kyniker, welche, dem 
Ideal des Weisen huldigend, die Tugend des Weisen für 
das einzige und höchste Gut und zugleich für die einzige 
naturgemäße Norm im Gegensatze zu aller traditionellen 
menschlichen Satzung urd Sitte erklären. Zur höchsten Voll- 
endung ist derselbe Grundgedanke in der unten noch zu be- 
sprecuenden Lehre der Stoa gelangt. 
Die zweite jener Strömungen beginnt mit dem Versuche 
der Kyrenäirchen Schule, den Grundgedanken des Hedonis- 
mus zur Definition der wahren Glückseligkeit zu verwerten, 
und erreicht ihren Höhepunkt in dem weit consequenteren, 
immer aber wesentlich egoistischen Eudämonismus Epikurs. 
Eine besondere Form mußie die Antwort auf die obige 
Vrage im Zusammenhange der platonischen Metaphysik er- 
halten. Das wahrhaft Gute kann im diesem Zusammenhange 
wie alles wahre Sein nur in der Ideenwelt gesucht werden. 
Eben diese „Idea des Guten“ ist die höchste aller Ideen, in 
welcher die Gesamtheit des Seienden ihren einheitlichen Ab- 
sch'uß, ihre höchste Voller.dung findet; sie ist identisch mit 
der Gottheit oder der Weltvernunft, durch welche jedem Teil 
des Weltganzen die ihm zukommende Stellung angewiesen 
wird. Durch unseren Verstand vermögen wir zwar die Idee 
des Guten zu erkennen. Für unser irdisches Leben aber bleibt 
dası wahrhaft Gute, eben weil dasselbe der Ideenwelt angehört, 
unerreichbar; wır können nur streben, unser Leben dem 
Göttlichen möglichst ähnlich zu machen -— die letzte Vollen- 
dung aber bleibt uns in der Welt des vergänglichen. Scheines 
1) Das Verhältnis dieses dogmatischen Tugendbegriffes und der 
einzelnen Handlungen erscheint analog dem Verhältnis, welches in der 
eieatischen. Metaphysik zwischen dem einheitlichen beharrlichen Sein 
und dem Wechsel der Erscheinungen besteht. Auch hier fndet sich die 
gleiche Unklarkeit wie dort: die Tugend soll die einzelnen Handlungen 
bestimmen, aber die Theorie vermag nicht anzugeben, wie die letzteren 
sich aus jener ableiten. 
Cornelius, Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl, 
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