8 6. Die Entwicklung der Philosophie.
nungen das Interesse in Anspruch nimmt, bleibt für die Ver-
tiefung der Erkenntnis durch klärende Analyse des längst
Gewohnten keine Muße. Neues Tatsachenmaterial strömt uns
fortwährend in unerschöpflicher Menge zu. Wir lernen Zu-
sammenhänge dieser neuen Tatsachen unter einander und mit
den altbekannten Erscheinungen kennen: das Netz der Ver-
knüpfung, durch welches wir unsere Erfahrungen, wenn nicht
in ihrer Gesamtheit, so doch gruppenweis® in einheitliche
Formen zu fassen wissen, dehnt sich weiter und weiter aus.
Auch zwischen den alten Bestandteilen dieses Netzes knüpfen
sich neue Verbindungen, die jenen Einheiten immer reich@re
Gliederung verschaffen. Je nach der Richtung unserer Gedanken
kann dieselbe Erscheinung, die uns längst völlig vertraut war,
den Charakter ‚des Erstaunlichen, Erklärungsbedürftigen er-
halten: was in einer Hinsicht, im Zusammenhang mit Tatsachen
dieser oder jener Reihe ein Selbstverständliches war, kann uns
als ein völlig Fremdartiges erscheinen; wenn wir von einer
ungewohnten Seite darauf stoßen. So geschieht es, daß unser
Staunen und damit unser Erklärungsbedürfnis, das anfangs nur
durch ungewohnte Erscheinungen erregt wurde, sich schließ-
lich auch den bekanntesten Tatbeständen zuwendet, auch hier
Erklärungen zu suchen sich gezwungen findet.
Mit dieser steten Erweiterung und Vervollständigung
unserer Erkenntnis geht zunächst insofern ein Fortschritt
vom Dogmatismus zum Empirismus Hand in Hand, als
die metaphysischen Systeme sich der fortschreitenden Erfahrung
gegenüber jedesmal als ungenügend und unhaltbar erweisen.
Die Erforschung der einzelnen Erscheinungsgebiete entwickelt
sich um so unabhängiger von jenen allgemeinen Speculationen,
je weniger, die letzteren sich den Fortschritten der Erfahrung
anzubequemen wissen, je weiter sie über die tatsächliche EBr-
fahrung hinaus ins Leere gegriffen haben. Die Enttäuschung
über Wert und Haltbarkeit jener Systeme führt endlich zur
allgemeinen Skepsis gegenüber der metaphysischen Specula-
tion: das Interesse wendet sich immer ausschließlicher den
Einzelwiesenschaften zu, deren glänzende Erfolge vor aller
Augen liegen. Wir werden durch die Erfahrung belehrt, daß
die Forderung einer Theorie des Weltganzen verfrüht ist, so
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