482 H. A. Bueck. Centralverband Deutscher Industrieller.
moralische Halt der Betroffenen ein geringerer ist. Im Verlaufe
der Wirksamkeit des Gesetzes hat sich die Ueberzeugung heraus—
gebildet, daß die auf Grund der Unfallversicherung zugebilligte
Entschädigung fast ausnahmslos sehr reichlich bemessen wurde. Nach
dem Urtheil durchaus sachverständiger und erfahrener Männer,
sollen nicht wenige von einem Unfall betroffene Arbeiter viel weniger
Werth auf die Wiederherstellung der verletzten Glieder legen, als
darauf, eine möglichst hohe Rente herauszuschlagen. Diese be—
dauerliche Richtung gipfelte nicht selten in dem verwerflichen Streben,
das Heilverfahren aufzuhalten, zu unterbrechen oder gänzlich un—
wirksam zu machen. Bei vollständig erwiesener Simulation ge—
stattete das Gesetz die Ablehnung der Entschädigung, der Berufs—
genossenschaft lag aber die Pflicht ob, den vollen Nachweis der
Unwahrhaftigkeit des Verletzten in allen strittigen Punkten
zu bringen; das war in den meisten Fällen unmöglich. Hätte die
Entschädigung denen entzogen werden können, die überhaupt durch
unwahre Angaben Täuschungsversuche machten, so würde es möglich
gewesen sein, der Simulation mit größerem Erfolge entgegenzutreten.
In ähnlicher Weise, wie die stark zunehmende Simulation,
wirkte demoralisirend der statistisch festgestellte Umstand, daß in
zahlreichen Fällen durch die zugesprochene Rente in Gemeinschaft
mit demjenigen Lohne, den der Rentenempfänger, trotz des er—
littenen Unfalls, weiter zu verdienen noch in der Lage war, eine
Verbesserung des Einkommens und damit der ganzen Lebenshaltung
eintrat. Zu Ende des Jahres 1894 waren in 90 rheinisch—
westfälischen Betrieben 562 Arbeiter beschäftigt, die durch die Rente
und den von ihnen nach erlittenem Unfalle noch verdienten Lohn
besser gestellt waren, als vor dem Unfall. Dieser Mißstand
wirkte auf den ehrlichen, selbstbewußten Arbeiter verstimmend, auf
den weniger hochstehenden Arbeiter demoralisirend. Er ist die
Ursache weiterer Mißstände und zwar des Vorkommens von Un—
fällen, die von den Arbeitern selbst herbeigeführt wurden durch
Unachtsamkeit, Leichtfertigkeit, grobes Verschulden, besonders durch
Nichtbeachtung oder Nichtbenutzung oder gar schuldhafte Beseitigung
der Unfallverhütungs- und Sicherheitsmaßregeln.
Im Zusammenhange mit den beiden vorerwähnten Miß—
ständen wurde die Frage erörtert, ob dem ärztlichen Element bei
Beurtheilung der Folgen des Unfalls, bezw. des Grades der ver—
lorenen Erwerbsfähigkeit eine genügende Mitwirkung eingeräumt sei.