Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

Richard Strauß. 
Die Musik der Gegenwart. 
Der starre, erkältende Naturalismus und Materialismus, der die 
Welt zu Anfang der achtziger Jahre noch beherrschte, eine Wirklich— 
keitskunst, die das Gemüt ausschalten möchte, ließ bald eine große 
Sehnsucht nach Gefühlswerten erwachen, welche die Herrschaft der 
logischen Formel brechen sollten. Das, was schon Schiller ersehnte, eine 
„ästhetische Kultur“ wurde das zu erstrebende Ziel. Getragen 
sollte sie sein von metaphysischen und transzendentalen Werten. Ein 
mystischer Zug nach Versenkung, eine Sehnsucht nach Gott durchzieht 
die Herzen. Dieser Drang aber öffnet die Augen der Seele, daß sie in 
die weilen, visionären Fernen zu schauen vermögen. Eine Zeit des 
Hypersensitiven beginnt und tritt überall in die Erscheinung. 
Eine höchste Differenzierung der Gefühle, ein Auskosten bis zum 
Letzten wird erstrebt; Reize von höchster Empfindsamkeit werden ge— 
sucht. Wir entdecken Farben, die in ihrer Unbestimmtheit, ihren kaum 
empfindbaren Übergängen vordem nicht einmal geahnt wurden. In 
keiner Kunst aber konnte das Unaussprechliche, Visionäre einen so 
starken Ausdruck finden, wie in der Musik. 
Der Meister aber, der die Sprache, den musikalischen Ausdruck 
für dieses neue Fühlen in höchstem Maße schuf, ist 
in Richard Strauß. 
Er wurde gebbat 1864 zu München als Sohn des hervorra— 
genden Hornisten, des Prof. Franz Strauß, der sich besonders in 
seinem Hornkonzert auch als lüchtiger Komponist zeigt. In seiner 
musikalischen Gesinnung stand der Vater schroff der durch Wagner be— 
gründeten, neuen Richtung entgegen und suchte auch den Sohn von 
ihr fernzuhalten. Früh wird das große musikalische Talent Richards 
erkannt und nach allen Richtungen hin aufs sorgfältigste ausgebildet. 
Damit Hand in Hand geht die allgemeine Bildung am Gymnasium 
und nachher an der Universität. Mit 14 Jahren veröffentlicht er als 
op. 1 einen Festmarsch. 1881 folgt als op. 2 ein Streich⸗— 
quartett, in demselben Jahre eine Symphonie in Dmoll 
Und andere Werke, von denen eine Violoncellosonate und ein 
Hornkonzert (op. 11) auch heute noch viel gespielt werden. Neben 
den älteren Klassikern wirkte Joh. Brahms immer mehr befruchtend 
auf Strauß. Wie stark dieser Einfluß wird, das zeigt das Werk, 
welches den Höhepunkt von Strauß' Jugendwerken bildet, die präch— 
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