Full text: Musikgeschichte, Kulturquerschnitte, Formenlehre, Tonwerkzeuge und Partitur (1. Band)

Das Verständnis der Partitur. 
Das Verständnis der Partitur. 
Die Vorbedingung für das Verständnis der Partitur ist die 
Fähigkeit, sie fließend lesen zu können. Partiturlesen heißt, das 
Notenbild nicht nur den Tönen nach, sondern mit allen 
Farbeninnerlichklingen hören. Wir müssen imstande sein, 
eine Partitur ohne Hilfe eines Instrumentes, durch das Auge 
allein in uns aufzunehmen. Dazu gehört vor allem eine natür— 
liche Anlage des Tonbewußtseins. Diese aber muß durch 
übung ausgebildet werden. 
Das Partiturspiel als das unmittelbare über— 
tragen des Notenbildes aufs Klavier oder ein anderes 
Tasteninstrument, unterstützt wesentlich unser Ohr und kontrolliert es. 
Wer eine Partitur spielt, liest sie auch damit. Andererseits aber setzt 
das Spiel neue Fähigkeiten voraus; als Grundbedingung ein gewisses 
Maß technischerFertigkeit und höchstersschlagfertigkeit. 
Die erste Schwierigkeit für den Partiturleser und spieler bildet 
das überschauen mehrerer Liniensysteme mit einem 
id Blick, eines Komplexes, der bei modernen Werken nicht selten den 
en Augenwinkel überschreitet. — Dazu kommt die größere Schwierigkeit, 
im Augenblick das Wesentliche vom Unwesentlichen zu 
it unterscheiden; das thematisch Wichtige sofort als 
n solches zuerkennen und in den Vordergrund und in die richtige 
8 Beleuchtung zu stellen; eine in die Tat übersetzte kritische Ana— 
lyse. Während der Partitur leser verweilen und überlegen kann, 
muß der Partiturspieler das Resultat seiner geistigen Tätigkeit un— 
mittelbar in Klang umsetzen, und nicht genug damit, er muß 
dabei zugleich das Bild der Partitur klaviermäßigumdeuten. 
Dem Klaviere fehlt eines der Hauptausdrucksmittel des Orchesters, 
die Verschiedenheit der Farben, und die dadurch gegebene 
Möglichkeit, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Trotz— 
dem besitzt das moderne Klavierspiel Ausdrucksmittel, die uns diesen 
Mangel vergessen machen und bis zu einem gewissen Grade die 
Orchesterfarben uns vorzutäuschen vermögen. Das be— 
deutet allerdings einen Grad der Vollkommenheit im Partiturspiel, 
der neben andauerndem Fleiße eine besondere Begabung hierfür vor— 
aussetzt, wie sie im höchsten Sinne F. Liszt eigen war. Für den 
Schüler gilt der Grundsatz, die Partitur möglichst wörtlich auf dem 
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