10 Die Anfänge der Mehrstimmigkeit.
teressantesten Künstler dieser Zeit. Charakteristisch für seinen Stil ist
die öfters von ihm verwendete schottische Tonleiter ohne Quart.
In den Niederlanden ist es Binchois ( 1460), der den
neuen Stil weiter bildet, vor allem aber Dufay ( 1474). Letzterer
schrieb bereits ganze drei- und vierstimmige Messen unter
Verwendung eines cantus firmus, und zwar einer weltlichen
„Liedmelodie“, so die „Missa super 'amme armé“, ein da—
mals allgemein verbreitetes Volkslied, das dann auch nachher noch
sehr häufig in diesem Sinne verwendet wird. Auch viele Motetten
entstammen seiner Hand. Dufay steht auf der Schwelle einer neuen
Zeit; in ihm gelangt der Satz zu einer Stufe der Vollkommenheit,
die imstande ist, das, was die Seele dieser Zeit bewegt, im Kunst—
werk auszusprechen. Dieser Meister bildet den direkten übergang
zu der großen niederländischen Schule.
Überschauen wir nochmals dieses Gebiet in seinem Streben und
Ringen nach einem Ziele hin. Merkwürdig erscheint es uns, daß
wir gerade in den ältesten Denkmälern der Mehrstimmigkeit einer
so komplizierten Form wie dem Kanon begegnen. Wir treffen ihn be—
reits um 1240 in völlig durchgebildeter Form im Sommer-Kanon
des englischen Komponisten S. Fornsete (s. Riemann, Musikgeschichte
in Bsp. Nr. 1). Und doch entsprach diese Form dem natürlichen
Empfinden dieser Zeit. — Das Streben des mehrstimmigen Stils
geht darauf aus, jeder Stimme möglichste Freiheit in Rhythmus und
Melodie zu geben. Man versuchte die Lösung dieses Problems an—
fangs dadurch, daß man in den „Motetes“ zwei oder drei Melodien
mit verschiedenem Text miteinander verband. Das widersprach aber
jedem Gefühl von Einheitlichkeit. Um diese zu erzielen, kam
man zu der Erkenntnis, daß alle Stimmen gleichmäßigan
der Thematikteilzunehmenhaben. Würden aber nun alle
Stimmen zugleich das Thema anstimmen, so wäre damit das Gesetz
der freien Selbständigkeit der einzelnen Stimmen unmöglich, da alle
ja dann den gleichen Rhythmus hätten. Es wäre eine Rückbildung
zum alten Organum. Man fand den Ausweg darin, daß man die
Stimmen nacheinander mit derselben Melodie einsetzen
ließ, so daß eine Stimme die vorhergehende nachahmte (Imita—
tion). Diese Nachahmung erstreckte sich im Kanon auf die ganze
Stimme; alle Stimmen sind einander gleich. Darin lag aber ein neuer
Zwang, schlimmer als der erste. Aber auch diesen überwand man,
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