den höhern Dingen mitzusprechen berechtigt ist. Oder höchstens hat die
Vernunft für ihn die Bedeutung seiner Concubine, der er nur bei der
Nacht im Rücken seines Glaubens, im Widerspruch mit seinen Geboten,
darum mit angstbeklommenem Herzen zu Zeiten, wo ihn eben das na—
türliche Gelüste überwältigt, flüchtige Besuche macht. Aber in Bayle
ist die Vernunft die Lebensgefährtin, die Freundin seiner Seele, die
Gattin, mit der ihn Uebereinstimmung der Neigung, der Denkart, des
Charakters verbunden hat.
Es steht hier der Glaube — wohl nicht dem Gleichniß, aber der
Bedeutung desselben nach — in demselben Verhältnisse zur Vernunft,
wie dort die Vernunft zu dem Glauben, jedoch mit dem Unterschiede,
daß in Bayle der Glaube allerdings die äußerlich berechtigte Person
ist, der Glaube das Recht, die Vernunft aber die Neigung für sich
hat. Die Worte, die daher hier die Vernunft über ihr Mißverhältniß
zum Glauben fallen läßt, haben ein ganz anderes Gewicht, eine ganz
andere Bedeutung, als wenn sie aus dem Munde eines Orthodoxen
kommen; sie kommen hier aus einer förmlichen Entzweiung mit
dem Glauben, aus einem innerlich entschiedenen Widerwillen und
Widerspruch gegen ihn. Das Nicht in den Worten: die Dogmen
lassen sich nicht mit den Maximen der Vernunft zusammenreimen, wird
mit einer besondern Betonung, mit einem solchen Nachdruck ausge—
sprochen, daß man eine besondere Absicht dahinter suchen und meinen
möchte, es liege der geheime Schluß zu Grunde: wahr ist nur, was
mit der Vernunft übereinstimmt. Die Worte, die ste über ihr Mißver—
hältniß zum Glauben fallen läßt, sind keine Worte, wie sie einem zu—
fällig im Gespräch entfahren, wo man so manches spricht, was man,
im strengsten Sinne genommen, nicht verantworten möchte, sondern,
so zu sagen, systematische Behauptungen. Der Widerspruch ist nicht
nur so hingeworfen; er wird begründet, demonstrirt. Eifrig wird in
dem Archiv der Vernunft nachgesucht, um urkundlich zu erhärten, daß
zwischen ihr und dem Glauben sich keine Verwandtschaft auch nur im
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