Full text: Pierre Bayle (6. Band)

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Allerdings ist der Protestantismus dadurch hinlänglich entschuldigt 
— wenn anders eine welthistorische Erscheinung einer Entschuldigung 
bedarf — daß überhaupt in der Entwicklung der Menschheit sich die 
praktischen Bedürfnisse eher regen, als die theoretischen, eher daher auch 
befriedigt werden müssen, als diese, und daß er zunächst, in Beziehung 
auf seine Zeit, auch genug für die Freiheit der Intelligenz gethan, indem 
er einen unendlichen Wust von geist- und gemüthbeschwerendem Aber— 
glauben über Bord geworfen. Aber der Grund mag sein, welcher er 
wolle: der Protestantismus war in theoretischer Beziehung eben so 
wenig, als der Katholicismus in praktischer, ein Princip des Friedens, 
der Versöhnung. Der Katholik hatte noch sogar diesen Vorzug vor 
dem Protestanten voraus, daß er, um seinen Kampf zu lindern oder 
gar zu stillen, zu solchen Mitteln seine Zuflucht nehmen konnte, wie 
Origenes, der sich selbst entmannte, wie Hieronymus, der in die Ein⸗ 
samkeit in dunkle Höhlen floh, wie der heilige Franciscus, der die Gluth 
seiner Begierden in der Kälte des Schnees löschte, wie Paskal, der 
einen stachlichen Gürtel um den Leib trug, um jede ihm mißfällige 
Regung sogleich in ihrer Geburt zu ersticken. Die Vernunft dagegen 
ist an ein Organ gebunden, dessen Verlust mit dem Verlust des Lebens, 
oder wenigstens, wenn gelindere Mittel angewandt werden, mit dem 
Verlust der Besinnung, des Bewußtseins, der Menschheit im Menschen 
verbunden ist. Der Protestant hat kein äußeres, kein natürliches Mittel 
zur Linderung seiner Kämpfe und Seelenleiden: er muß zu künstlichen 
Mitteln, zu Produkten seiner eigenen Erfindungsgabe seine Zuflucht 
nehmen: er ist sich selbst anheim gegeben — ein Patient, der sein eigner 
Arzt sein soll. Der Arme! er hat zu seiner Heilquelle nur die Quelle 
des Uebels. Mag er sich nämlich auch noch so sehr durch Gebet und 
3 Bibellesen beschwichtigen und stärken: er kann doch nicht unterlassen, 
hn er muß zuletzt immer wieder die Zweifel, die aus der Vernunft kommen, 
pruhfl⸗ durch Gründe, die gleichfalls aus der Vernunft kommen, zu beruhigen 
suchen, um so die Vernunft durch sich selbst zu taͤuschen und gleichsam
	        
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