Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

frei, nicht aus Achtung vor der Wissenschaft, sondern vielmehr nur aus 
Geringschätzung wegen ihrer sei's nun wirklichen oder vermeintlichen 
Einflußlosigkeit und Gleichgültigkeit für das öffentliche Leben. Was 
war also in dieser Zeit zu thun, zumal wenn man sich bewußt war, dem 
herrschenden Regierungssystem entgegenge etzte Gedanken und Gesin— 
nungen zu hegen, als daß man in die Einsamkeit sich zurückzog und des 
schriftlichen Worts bediente, als des einzigen Mittels, wodurch man 
sich, freilich auch mit Resignation und Selbstbeherrschung, der Imper— 
tinenz der despotischen Staatsgewalt entziehen konnte. Es war übrigens 
keineswegs nur politischer Abscheu, der mich in die Einsamkeit verbannte 
und zum schriftlichen Wort verdammte. Wie ich mit dem politischen 
Regierungssysteme der Zeit in fortwährender innerlicher Opposition lebte, 
so war ich auch mit den geistigen Regierungssystemen, d. h. den philo— 
sophischen und religiösen Lehrsystemen zerfallen. Um aber über die 
Gegenstände und Ursachen dieses Zwiespalts mit mir ins Reine und 
Klare zu kommen, dazu bedurfte ich anhaltender, allseitig ungestörter 
Muße. Wo findet man aber diese mehr, als auf dem Lande, wo man 
von allen bewußten und unbewußten Abhängigkeiten, Rücksichten, Eitel— 
keiten, Zerstreuungen, Intriguen und Klatschereien des Städtelebens 
befreit, nur auf sich selbst verwiesen ist? Wer glaubt, was Andere glau— 
ben, lehrt und denkt, was Andere denken und lehren, kurz wer in sei es 
nun wissenschaftlich oder religiös gläubiger Gemeinschaft mit Andern 
lebt, der braucht sich nicht von ihnen auch leiblich zu trennen, der hat 
nicht das Beduͤrfniß der Einsamkeit, wohl aber der, der seinen eigenen 
Weg geht, oder gar mit der gesammten gottesgläubigen Welt bricht und 
nun diesen Bruch rechtfertigen und begründen will. Dazu gehört freie 
Zeit und freier Raum. Unkenntniß der menschlichen Natur ist es, wenn 
man glaubt, daß man an jedem Orte, in jeder Umgebung, in jedem 
Verhältniß und Stande frei denken und forschen könne, daß dazu nichts 
weiter erfordert werde, als der eigene Wille des Menschen. Nein! zum 
wahrhaft freien, rücksichtslosen, extraordinären Denken, soll dieses we—
	        
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