Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

ut uu nigstens ein fruchtbares, entscheidendes Denken sein, wird auch ein 
extraordinäres, freies, rücksichtsloses Leben erfordert. Und wer geistig 
auf den Grund der menschlichen Dinge kommen will, der muß auch 
sinnlich, körperlich auf den Grund derselben sich stellen. Dieser Grund 
ist aber die Natur. Nur im unmittelbaren Verkehr mit der Natur ge— 
nest der Mensch, legt er alle überspannten, alle über- oder widernatür— 
lichen Vorstellungen und Einbildungen ab. 
Aber eben, wer Jahre lang in der Einsamkeit lebt, wenn auch 
nicht in der abstracten Einsamkeit eines christlichen Anachoreten oder 
Mönchs, sondern in einer humanen Einsamkeit, und nur durch die 
Schrift mit der Welt in Correspondenz steht, der verliert die Lust und 
Gabe der Rede; denn es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen dem 
muündlichen und schriftlichen Wort. Das mündliche bezieht sich auf ein 
bestimmtes, gegenwärtiges, wirkliches Publikum, das schriftliche aber 
ne i auf ein unbestimmtes, abwesendes, für den Schriftsteller nur in der Vor— 
stellung existirendes Publikum; das Wort hat zu seinem Gegenstand 
Menschen, die Schrift Geister, denn die Menschen, für die ich schreibe, 
sind ja für mich nur im Geiste, in der Vorstellung existirende Wesen. 
Die Schrift ermangelt daher aller der Reize, Freiheiten, und so zu sagen 
t geselligen Tugenden, die dem mündlichen Wort zukommen; sie gewöhnt 
den Menschen an strenges Denken, gewöhnt ihn nichts zu sagen, was 
Anhe sich nicht vor der Kritik rechtfertigen läßt; aber macht ihn eben dadurch 
— auch wortkarg, rigoros, bedenklich in der Wahl seiner Worte, unfähig, 
sich mit Leichtigkeit auszudrücken. Ich mache Sie, meine Herren, hier— 
auf aufmerksam, hierauf, daß ich den schönsten Theil meines Lebens 
in it nicht auf dem Katheder, sondern auf dem Lande, nicht in der Universi— 
wynn taͤtsaula, sondern im Tempel der Natur, nicht in Salons und Audienz— 
zimmern, sondern in der Einsamkeit meiner Studirstube zugebracht habe, 
damit Sie nicht mit Erwartungen an meine Vorlesungen kommen, in 
E denen Sie sich getäuscht finden, nicht einen beredten, glänzenden Vor— 
we⸗ trag von mir erwarten. 
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