Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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ben eines Traumes hin. Die kamtschadalischen Weiber überlassen 
sich demjenigen ohne Widerstand, der sie in seinem Schlafe genossen zu 
haben versichert. Ein Irokese träumte, daß man ihm einen Arm 
abschneide und er schneidet sich ihn ab; ein anderer, daß er seinen 
Freund tödte, und er tödtet ihn“. (B. Constant a. a. O.) 
Kann die Macht der Einbildungskraft höher getrieben werden als hier, 
wo der geträumte Verlust eines Armes zum Grund und Gesetz des wirk— 
lichen Verlustes; die träumerisch eingebildete Tödtung eines Freundes 
zum Grund und Gesetz der wirklichen Tödtung gemacht wird, wo man 
also einem bloßen Traum seinen Leib, seine Arme, seinen Freund selbst 
aufopfert (20). Wie den Wilden noch jetzt, so galt auch den alten Völ— 
kern der Traum für ein göttliches Wesen, für eine Offenbarung, eine 
Erscheinung Gottes. Selbst die Christen halten zum Theil noch jetzt 
die Traume für göttliche Eingebungen. Das aber, worin sich ein Gott 
offenbart, worin ein Gott erscheint, ist nichts Andres, als das Wesen 
desselben. Ein Gott daher, der sich im Traume offenbart, ist nichts 
Andres, als das Wesen des Traumes. Was ist denn nun aber das 
Wesen des Traumes? Die nicht durch die Gesetze der Vernunft und 
sinnlichen Anschauung beschränkte, im Zaum gehaltene Einbildungskraft 
oder Phantasie. Folgt daraus, daß die Christen sich für ihre Glaubens— 
gegenstaͤnde verfolgen ließen, ihnen Gut und Blut opferten, die Wahr⸗ 
heit und Wirklichkeit derselben? Mit Nichten; so wenig, als daraus, 
daß der Jrokese seinem Traume zulieb seinen Arm abhaut, folgt, daß er 
diesen Arm wirklich im Traum verloren hat; so wenig überhaupt daraus 
die Wahrheit der Träume folgt, daß ihnen der Mensch, der sich von 
Träumen beherrschen läßt, die Wahrheit der vernünftigen Sinnenan— 
schauung aufopfert. Ich habe übrigens die Träume nur angeführt, als 
sinnliche, augenfällige Beispiele von der religiösen Macht der Einbil— 
dungskraft über den Menschen. Ich habe aber auch behauptet, daß die 
Einbildungskraft der Religion nicht die freie des Künstlers ist, sondern, 
daß sie einen practischen, egoistischen Zweck hat, oder daß die Einbil— 
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