Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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habe Mitleid mit meinen Kindern und meinem Weibe! Verhüte, daß 
fie meinelwegen nicht trauern! Laß es mir in diesem Unternehmen ge— 
sngen, daß ich meinen Feind erschlagen möge und heimbringe die Sie— 
geszeichen zu meiner theuern Familie und meinen Freunden, daß wir 
inander uns freuen. Habe Mitleiden mit mir und behüte mein Leben 
und ich will dir ein Opfer bringen.“ In diesem rührenden, einfachen 
Gebete haben wir alle angegebenen Momente der Religion beisammen. 
Der Mensch hat nicht den Erfolg seines Unternehmens in seiner Hand. 
Zwischen dem Wunsch und seiner Verwirklichung, zwischen dem Zweck 
und seiner Ausführung liegt eine Kluft von Schwierigkeiten und Mög— 
lichkeiten, die seinen Zweck vereiteln können. Mag mein Schlachtplan 
noch so vortrefflich sein, allerlei, sowohl natürliche als menschliche Vor— 
fuͤlle, ein Wolkenbruch, ein Beinbruch, zufällig verspaäͤtete Ankunft eines 
Hülfscorps und dergleichen Fälle können meinen Plan vereiteln. Der 
Mensch füllt daher durch die Phantasie diese Kluft zwischen dem Zweck 
und seiner Ausführung, zwischen dem Wunsche und der Wirklichkeit mit 
einem Wesen aus, von dessen Willen er alle diese Umstände abhängig 
denkt, dessen Gunst er daher nur zu erflehen braucht, um in seiner Vor— 
ftellung des gluͤcklichen Ausgangs seines Vorhabens, der Erfüllung sei— 
ner Wünsche, versichert zu sein. E2) Der Mensch hat nicht sein Leben 
in seiner Hand, wenigstens nicht unbedingt; irgend eine äußere oder 
innere Ursache, sei es auch nur das Zerreißen eines Aederchens in mei— 
em Kopfe, kann plötzlich mein Leben enden, kann mich wider Wissen 
Und Willen von Weib und Kindern, von Freunden und Verwandten 
ennen. Aber der Mensch wünscht zu leben; das Leben ist ja der In⸗ 
begriff aller Güter! Der Mensch verwandelt daher kraft seines Selbst— 
erhaltungstriebes oder auf Grund seiner Lebensliebe unwillkürlich diesen 
Wunsch in ein Wesen, das ihn erfuͤllen kann, in ein Wesen, das Augen 
hat, wie der Mensch, um seine Thränen zu sehen, und Ohren, wie der 
Mensch, um seine Klage zu hoͤren; denn die Natur kann diesen Wunsch 
icht erfüllen; die Natur, wie sie in Wirklichkeit ist, ist kein persönliches
	        
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