Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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keine weltgeschichtlichen Thaten mehr hervor. Aber wo das der Fall, 
wo der Glaube, nur eine Lüge noch ist, da befindet sich der Mensch im 
häßlichsten Widerspruch mit sich, da hat der Glaube daher wenigstens 
moralisch verderbliche Folgen. Eine solche Lüge ist aber der moderne 
Gottesglaube. Nur die Aufhebung dieser Lüge ist daher die Bedingung 
einer neuen, thatkräftigen Menschheit. 
Die eben erwähnte Erscheinung, daß Religiosität im gewöhnlichen 
Sinne des Worts oft mit den entgegengesetztesten Eigenschaften verbun— 
den ist, hat Viele zu der Hypothese oder Annahme gefuͤhrt, daß es ein 
besonderes Organ der Religion oder ein ganz specifisches, besonderes, 
religiöses Gefuͤhl gebe. Allein mit größerem Rechte könnte man ein be— 
sonderes Organ des Aberglaubens annehmen. In der That heißt der 
Satz: die Religion, d. h. der Glaube an Götter, an Geister, an sogenannte 
höhere, unsichtbare Wesen, welche über den Menschen herrschen, ist dem 
Menschen eingeboren, wie irgend ein anderer Sinn, dieser Satz heißt in 
vernünftiges und ehrliches Deutsch übersetzt: der Aberglaube ist dem 
Menschen eingeboren, wie schon Spinoza behauptete. Die Quelle und 
Stärke des Aberglaubens ist aber die Macht der Unwissenheit und Dumm⸗ 
heit, welche die größte Macht auf Erden ist, die Macht der Furcht oder 
des Abhängigkeitsgefühles und endlich die Macht der Einbildungskraft, 
welche aus jedem Uebel, dessen Ursache der Mensch nicht kennt, aus 
jeder Erscheinung, sei es auch nur eine flüchtige Lufterscheinung, eine 
Gasart, die den Menschen erschreckt, weil er nicht weiß, was es ist, 
ein böses Wesen, Geist oder Gott macht, aus jedem Glücksfall, aus 
jedem Fund, jedem Gut, das ihm der Zufall zuführt, ein gutes Wesen, 
einen guten Geist oder Gott, oder wenigstens das Werk eines solchen 
macht. So glaubten z. B. die Caraiben, daß es ein böser Geist sei, 
der durch das Schießgewehr wirke, daß ein böser Geist bei einer Mond— 
finsterniß den Mond verschlinge, daß der böse Geist selbst da gegen— 
wärtig sei, wo sie einen üblen Geruch bemerkten. Im entgegenge⸗ 
mn setzten Sinne heißt es aber bei Homer, wenn Einem der Zufall irgend
	        
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