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und Italien drückten von undenklichen Zeiten her Unterthanen ihren
Beherrschern, Knechte ihren Herren, Frauen und Kinder ihren Männern
und Vätern Ehrfurcht und Ergebenheit dadurch aus, daß sie ihnen ent—
veden die Hande oder die Kniee und den Saum der Kleider oder endlich
die Füße kußten. Was Untergebene ihren Vorgesetzten thaten, das
thaten die Menschen überhaupt den Göttern. Sie küßten also entweder
die Hände oder die Kniee oder die Füße der Bildnisse der Götter. Die
freien Griechen und Römer erlaubten sich sogar das Kinn und den
Mund von Göͤtterstatuen zu küssen“. Wir sehen an diesem Beispiele,
daß die Menschen keine anderen Ehrenbezeigungen, keine anderen Aus⸗
drucksweisen ihrer Empfindungen und Gesinnungen gegen die göttlichen
Wesen haben, als gegen die menschlichen Wesen, daß daher die Gesin—
nungen und Gefühle, die der Mensch einem religiösen Gegenstande,
einem Gotte gegenüber hat, er auch nicht religiösen Gegenständen gegen⸗
über empfindet, also die Gefühle der Religion keine besonderen sind, oder
daß es kein specifisch religiöses Gefühl giebt. Der Mensch wirft sich
auf die Kniee nieder vor seinen Göttern; aber dasselbe thut er auch vor
feinen Herrschern, vor Denen überhaupt, die sein Leben in der Hand it
haben; er fleht auch sie um Erbarmen demüthigst an; kurz er bezeigt
dieselbe Ehrfurcht den Menschen als den Göttern. So verehrten
die Römer mit der nämlichen Pietät oder Frömmigkeit, mit welcher sie
die Götter verehrten, das Vaterland, die Blutsverwandten, die Eltern.
Die Frömmigkeit, die Pietät ist, wie Cicero sagt, die Gerechtigkeit gegen
die Götter, aber sie ist auch, wie derselbe an einer anderen Stelle sagt,
die Gerechtigkeit gegen die Eltern (2). Bei den Römern war daher
auch, wie Valerius Maximus bemerkt, dieselbe Strafe auf die Ver—
letzung der Götter und Eltern gesetzt. Aber noch höher als die Würde
der Eltern, die doch den Göttern gleich geachtet waren, stand, wie der—
selbe sagt, die Majestät des Vaterlands, d. h. der höchste Gott der Rö—
mer war Rom. Bei den Indiern gehört zu den fünf großen religiö—
sen Ceremonien oder Sacramenten, die nach Menu's Gesetzbuch ein
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