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füllung. Der Schluß auf ein religiöses oder theologisches Jenseits, ein
zukünftiges Leben zum Behuf der Vervollkommnung der Menschen
wäre daher nur dann gerechtfertigt, wenn die Menschheit immer auf
demselben Flecke stehen bliebe, wenn es keine Geschichte, keine Vervoll—
kommnung, keine Verbesserung des Menschengeschlechts auf Erden gäbe,
obgleich auch in diesem Falle jener Schluß deswegen noch kein wahrer,
wenn gleich berechtigter wäre. Allein es giebt eine Culturgeschichte der
Menschheit: verändern und cultiviren sich doch selbst Thiere und Pflan—
zen im Laufe der Zeit so sehr, daß wir selbst nicht mehr ihre Stamm—
äͤltern in der Natur auffinden und nachweisen können! Unzähliges,
was unsere Vorfahren nicht konnten und wußten, können und wissen
wir jetzt. Kopernikus — ein Beispiel, das ich schon in meiner Un—
sterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie anführte, aber
mich nicht enthalten kann, hier zu wiederholen, weil es so treffend ist
— betrauerte es noch auf seinem Sterbebette, daß er in seinem ganzen
Leben den Planet Merkur auch nicht ein einziges Mal gesehen, so sehr
er es auch gewuͤnscht und sich darum bemuͤht hätte. Jetzt sehen ihn die
Astronomen mit ihren trefflichen Fernrohren am hellen Mittag. So
erfüllen sich die Wünsche des Menschen, die keine eingebildeten, phan—
tastischen sind, im Laufe der Geschichte, der Zukunft. So wird auch,
was für uns jetzt nur Wunsch, einst erfüllt werden, Unzähliges, was
den dünkelhaften Beschützern und Verfechtern der gegenwärtigen Glau—
bensvorstellungen und religiösen Institute, der gegenwärtigen socia—
len und politischen Zustäͤnde für Unmöglichkeit gilt, einst Wirklichkeit
sein; Unzähliges, was wir jetzt nicht wissen, aber wissen möchten,
werden unsere Nachkommen wissen. An die Stelle der Gottheit, in
welcher sich nur die grundlosen luxuriösen Wünsche des Menschen er⸗
fuͤllen, haben wir daher die menschliche Gattung oder Natur, an die
Stelle der Religion die Bildung, an die Stelle des Jenseits über unserem
Grabe im Himmel das Jenseits über unserem Grabe auf Erden, die
geschichtliche Zukunft, die Zukunft der Menschheit zu setzen.
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