Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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Das Christenthum hat sich die Erfüllung der unerfüllbaren Wünsche des 
Menschen zum Ziel gesetzt, aber eben deßwegen die erreichbaren Wünsche 
des Menschen außer Acht gelassen; es hat den Menschen durch die Ver⸗ 
n heißung des ewigen Lebens um das zeitliche Leben, durch das Vertrauen 
auf Gottes Hülfe um das Vertrauen zu seinen eigenen Kräften, durch 
den Glauben an ein besseres Leben im Himmel um den Glauben an ein 
besseres Leben auf Erden und das Bestreben, ein solches zu verwirk— 
lichen, gebracht. Das Christenthum hat dem Menschen gegeben, was 
er in seiner Einbildung wünscht, aber eben deßwegen nicht gegeben, was 
er in Wahrheit und Wirklichkeit verlangt und wünscht. In seiner Ein— 
bildung verlangt er ein himmlisches, überschwängliches, in Wahrheit 
aber ein irdisches, ein mäßiges Glück. Zum irdischen Glück gehoͤrt 
freilich nicht Reichthum, Luxus, Ueppigkeit, Pracht, Glanz und anderer 
Tand, sondern nur das Nothwendige, nur das, ohne was der Mensch 
J nicht menschlich existiren kann. Aber wie unzählig viele Menschen er— 
mangeln des Nothwendigsten! Aus diesem Grunde erklaͤren es die 
Christen für frevelhaft oder unmenschlich, das Jenseits zu läugnen und 
m eben damit den Unglücklichen, Elenden dieser Erde den einzigen Trost, 
n die Hoffnung eines besseren Jenseits zu rauben. Eben hierin finden 
sie auch jetzt noch die sittliche Bedeutung des Jenseits, die Einheit des— 
selben mit der Gottheit; denn ohne Jenseits sei keine Vergeltung, keine 
Gerechtigkeit, welche den hier, wenigstens ohne ihre Schuld Leidenden 
und Unglücklichen ihr Elend im Himmel vergelten müsse. Allein dieser 
. Vertheidigungsgrund des Jenseits ist nur ein Vorwand, denn aus die— 
m sem Grunde folgt nur ein Jenseits, eine Unsterblichkeit für die Unglück— 
hee lichen; aber nicht für die, welche auf Erden schon so glücklich waren, 
m die für die Befriedigung und Ausbildung ihrer menschlichen Bedürfnisse 
mndr und Anlagen nothwendigen Mittel zu finden. Für diese ergiebt sich aus 
tunserun dem angeführten Grunde nur die Nothwendigkeit, daß sie entweder mit 
ten d dem Tode aufhören, weil sie schon das Ziel der menschlichen Wünsche 
erreicht haben, oder daß es ihnen im Jenseits schlechter geht als im 
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