Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

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Diesseits, daß sie im Himmel die Stelle einnehmen, welche ihre Brüder 
einst auf Erden einnahmen. So glauben die Kamtschadalen wirklich, 
daß Diejenigen, welche hier arm waren, in der anderen Welt reich, die 
Reichen hingegen arm sein werden, damit zwischen den beiden Zuständen 
in dieser und jener Welt eine gewisse Gleichheit bestehe. Aber das wol⸗ 
len und glauben die christlichen Herren nicht, die aus dem angeführten 
Grunde das Jenseits vertheidigen; sie wollen dort eben so gut leben, 
als die Unglücklichen, die Armen. Es ist mit diesem Grunde für das 
Jenseits eben so wie mit dem Grunde für den Gottesglauben, welchen 
viele Gelehrte im Munde führen, indem sie sagen, der Atheismus sei 
zwar richtig, sie selbst seien Atheisten, aber der Atheismus sei nur eine 
Sache der gelehrten Herren, nicht der Menschen überhaupt, gehöre nicht 
für das allgemeine Publikum, nicht für das Volk; es sei daher unschick⸗ 
lich, unpractisch, ja frevelhaft, den Atheismus öffentlich zu lehren. 
Allein die Herren, die so reden, verstecken hinter dem unbestimmten, 
weitschichtigen Wort: Volk oder Publikum nur ihre eigene Unentschie— 
denheit, Unklarheit und Ungewißheit; das Volk ist ihnen nur ein Vor⸗ 
wand. Wovon der Mensch wahrhaft überzeugt ist, das scheut er sich 
nicht nur nicht, sondern das muß er auch öffentlich aussprechen. Was 
nicht den Muth hat, ans Licht hervorzutreten, das hat auch nicht die 
Kraft, das Licht zu vertragen. Der lichtscheue Atheismus ist daher ein 
ganz nichtswuürdiger und hohler Atheismus. Er hat nichts zu sagen, 
darum traut er sich auch nicht, sich auszusprechen. Der Privat- oder 
Kryptoatheist sagt oder denkt nämlich nur bei sich: es ist kein Gott, sein 
Atheismus faßt sich nur in diesen verneinenden Satz zusammen und 
dieser Satz steht obendrein bei ihm vereinzelt da, so daß trotz seines 
Atheismus Alles bei ihm beim Alten bleibt. Und allerdings, wenn der 
Atheismus nichts weiter waͤre, als eine Verneinung, ein bloßes Läug— 
nen ohne Inhalt, so taugte er nicht für das Volk, d. h. nicht für den 
Menschen, nicht für das öffentliche Leben; aber nur, weil er selbst nichts 
taugte. Allein der Atheismus, wenigstens der wahre, der nicht licht⸗
	        
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