Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

Ajax Mastigophoros, und wenn er auch noch einen so gewaltigen Körper 
hat, muß stets daran denken oder fürchten, daß er auch durch den klein⸗ 
sten Unfall stürzen kann.“ Wir Menschen sind nichts Andres, sagt er 
ebendaselbst, als wesenlose leichte Schatten. Daran wenn du denkst, 
wirst du nie ein üͤbermüthiges Wort gegen die Götter vorbringen, noch 
dich aufblähen, wenn du stärker oder reicher als Andere bist, denn ein 
einziger Tag kann dir Alles, was du hast, wiedernehmen. Als Ajsar 
das väterliche Haus verließ, sagte der Vater zu ihm: „Sohn! wolle 
siegen im Krieg, aber immer nur siegen mit Gott“. Aber Ajax gab 
darauf die thörichte und uͤbermüthige Antwort: „Vater! mit den Göt— 
tern kann auch einer, der Nichts ist, den Sieg davon tragen; ich aber 
hoffe auch ohne sie mir Kriegsruhm zuzuziehen“. Diese Rede des 
wackern Ajax war allerdings nicht nur irreligiös, sondern auch unbe⸗ 
sonnen, denn auch dem tapfersten und stärksten Mann kann ja über 
Nacht ein bloßer rheumatischer Unfall oder sonst ein zufälliges Malheur 
den Arm laͤhmen. Wenn also Ajax auch nichts mit den Göttern zu 
thun haben wollte, so hätte er doch wenigstens ein bescheidenes Wenn 
in seine Rede einschalten, sagen sollen: wenn mir nichts Wibriges wider— 
faͤhrt, werde ich siegen. Die Religiosität ist daher gar nichts Andres, 
als die Tugend der Bescheidenheit, die Tugend der Mäßigung im Sinne 
der griechischen Sophrosyne — die Sophrones, sagt Sophokles, liebt 
Gott — die Tugend, kraft welcher der Mensch nicht die Gränzen seiner 
Natur überschreitet, nicht sich in seinen Gedanken und Verlangen über 
das Maaß des menschlichen Wesens und Vermögens erhebt, nicht sich 
anmaaßt, was nicht des Menschen, kraft welcher er daher sich den stolzen 
Titel eines Autors abspricht, die Werke, die er schafft, selbst die Werke 
Unterschied zwischen Natur und Mensch oder Ich verschwinden, desto mehr erkennt er, 
daß er nur das oder ein bewußtes Bewußtloses, das oder ein Ich seiendes 
Nichkich ist. Daher ist der Mensch das allertiefste und tiefsinnigste Wesen. Aber der 
Mensch begreift und erträgt seine eigne Tiefe nicht und zerspaltet daher sein Wesen in 
ein Ich ohne Nichlich welches er Gott, und ein Nichtich ohne Ich, welches er Natur 
nennt. 
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