Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

sie sich vollends in Fleisch ein. Die Geschlechtsdifferenz ist die Blüthe, 
der Culminationspunkt der Individualitäͤt, der empfindlichste Punkt, der 
Point d'honneur der Individualität, der Geschlechtstrieb der ehrgeizigste 
und hoffärtigste Trieb, der Trieb, Schöpfer, Autor zu sein. Das höchste 
Selbstgefühl hat der Mensch geistig wie physisch nur an dem Punkt, wo 
er Autor ist, denn nur da liegt sein Unterschied von Andern, nur an 
dieser Stelle bringt er Neues hervor, außerdem ist er nur ein geistloser, 
selbstloser, mechanischer Repetent. Je mehr ein Mensch ist, desto mehr 
ist er Individuum. Je geistloser Individuen sind, je tiefer sie stehen, 
desto weniger unterscheiden sie sich, desto weniger sind sie überhaupt In— 
dividuen. Daß der Geschlechtstrieb zu seinem Gegenstand ein Wesen 
hat, das genau diesem meinem individuellen Trieb, Bedürfniß und Wesen 
überhaupt entspricht, auch das hat er mit andern Trieben gemein. Die 
Natur wird überhaupt nur durch sich selbst, d. h. nur durch das Gleiche, 
Verwandte erfaßt und aufgenommen: die Luft durch die Lunge, das, 
so zu sagen, luftigste Organ, das Licht durch das Auge, das Lichtorgan, 
der Schall durch die elastischen, schwingenden Gehörwerkzeuge, das 
Feste, Materielle durch das grobe Handwerkzeug des materialistischen 
Tastorgans, das Eßbare, Nahrhafte durch das Speiseorgan. Der Ath⸗— 
mungsproceß ist daher der Begattungsproceß der Lunge mit der Luft, 
respective dem Sauerstoff derselben, das Sehen der Begattungsproceß 
des Auges oder Sehnerven mit dem Lichte. Und diese Begattung der 
Lunge mit der Luft, des Auges mit dem Lichte, der übrigen Triebe oder 
Organe mit ihren Gegenständen ist eben so fruchtbar, als die eigentliche, 
sogenannte Begattung, nur daß jeder Trieb ein sich und seinem Gegen⸗ 
stand entsprechendes Product liefert. Productivität ist ja das Wesen 
der Natur, das Wesen des Lebens. Die Lunge als Lufticus zeugt Feuer, 
das Auge als Lichtfreund zeugt Lichtbilder, der Geschlechtstrieb aber als 
n ein männlicher und weiblicher Trieb zeugt auch nur Männleins und 
Weibleins. Aber ist denn das Individuum productiv? Ist es denn nicht 
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