Full text: Vorlesungen über das Wesen der Religion (8. Band)

462 
Gott oder die Gattung, welche die Kinder macht oder schafft? 
Warum gehen denn aber dann so viele Individuen über der Kinder— 
erzeugung und Gebährung zu Grunde? Woher das: omne animal 
post coitum triste, wenn nicht mein eigenes Wesen dabei betheiligt 
ist? Woher die individuelle Aehnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern, 
wenn die Gattung, „die sich selbst setzende Allgemeinheit“, nicht die In— 
dividualität das Zeugungsprincip ist? Allerdings kann ich keine Kinder 
zeugen, wenn mir irgend eine sei's nun bekannte oder unbekannte orga— 
nische Bedingung oder Fähigkeit dazu fehlt; aber ich kann auch nicht 
sehen, nicht horen, nicht gehen, nicht essen, nicht pissen, “) wenn mir die 
dazu nöthigen organischen Bedingungen und Anlagen fehlen, ich kann 
überhaupt nichts und bin nichts als ein Name, wenn man den andern 
Theil von mir, das Nichtich, die Natur von mir wegläßt. Ich habe mich 
indeß hierüber schon früher ausgesprochen; will aber, wie sich von selbst 
versteht, Niemandem die Freiheit nehmen, den Begriff des Individuums 
nach Belieben zu beschränken, die Eingeweide demselben aus dem Leibe zu 
nehmen und dann hintendrein den hohlen Balg mit einem Gotte, einer 
αονανα ανοναναν, sagte Karneades zu seiner Neuvermählten, aber 
eben so gut können wir, namentlich wenn wir an Harnbeschwerden leiden, sagen: 
ayαον νν oöοονοννναν (6t venia verbol). Als Luther, der am Stein litt, in 
Folge einer Reise Wasser lassen konnte, sagte er: sie laetitia cogit etiam hanc aquam 
numerare alias vilissimam, mihi vero pretiosissimam, und schrieb die Ursache davon 
der Kraft der Thränen und Gebete, oder was eins ist, der göttlichen Barmherzigkeit 
zu. „Gott hat Wunder an mir gethan diese Nacht und thuts noch durch frommer 
Leute Fürbitt“. Mögen die speculativen, religiösen und politischen Feinde der mensch— 
lichen Individualität in diesem köstlichen, ja göttlichen Wasser Luther's sich den Kopf 
waschen lassen, und entweder behaupten, daß das Urinmachen eben so gut als das 
Kindermachen eine Wirkung der Gattung oder sonst eines Allgemeingespenstes sei, 
oder erkennen, daß nur deswegen die Natur Zeugen und Pissen an ein und dasselbe 
Organ gebunden hat, um auf eine recht augenfällige Weise zu zeigen, daß das Zeugen 
eben so gut als das Pissen eine Sache des Individuums ist.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.