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für ihn theils menschliche, theils übermenschliche Wesen. So ist z. B.
im Zendavesta der Hund gleich dem Menschen den Gesetzen unterworfen.
„Beißt er ein Hausthier oder einen Menschen, so wird ihm zum
ersten Mal zur Strafe das rechte Ohr, zum zweiten Mal das linke
Ohr abgeschnitten, zum dritten Mal der rechte, zum vierten Mal der
linke Fuß, zum fünften Mal der Schwanz.“ So nannten nach Diodor
die Troglodyten den Stier und die Kuh, den Widder und das Schaf
Vater und Mutter, weil sie von ihnen und nicht von ihren natür—
lichen Eltern immerfort ihre tägliche Nahrung empfingen. So glau—
ben, wie Meiners berichtet, die Indianer in Guatimala, wie die afrika—
nischen Neger, daß das Leben eines jeden Menschen mit dem Leben eines
gewissen Thiers unzertrennlich verbunden sei, und daß, wenn das Bru—
derthier getödtet werde, der Mensch auch sterben müsse. So sagt auch
Sakontala zu den Blumen: „Ich fühle die Liebe einer Schwester
für diese Pflanzen.“ Ein schönes Beispiel von dem Unterschied des
menschlichen Wesens auf dem Standpunkt der orientalischen Naturver—
ehrung und des menschlischen Wesens auf unserem Standpunkt liefert
die Anecdote, die W. Jones erzählt, daß, als er einst die Lotosblume
auf dem Pulte liegen hatte, um sie zu untersuchen, ein Fremder aus
Nepal zu ihm gekommen, und so wie er diese Blume erblickte, vor Ehr—
furcht zur Erde niedergesunken sei. Welch ein Unterschied zwischen dem
Menschen, der vor einer Blume andächtig niederfällt und dem Men—
schen, der die Blume nur vom Standpunkt der Botanik aus ansieht!