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dern. Die Venus als Kunstwerk ist nicht dazu gebildet, aber auch
nicht bestimmt, Kinder zu empfangen und gebären, folglich auch
nicht geschlechtliche Triebe und Gelüste zu erwecken. Dieses über—
läßt die Kunst dem lebendigen Fleisch und Blut, oder wenn sie
auch Alles im Verlauf in ihr Gebiet hereinzieht, verlegt wenig—
stens die sinnliche Begierde in besondere untergeordnete Gestalten.
Aber so wenig Praxiteles mit seiner Venus das Liebebedürfniß des
Beschauers befriedigen wollte, so wenig verlangt es dieser vom
Künstler, solange er wenigstens noch bei gesunden Sinnen ist und
weiß, daß die Venus des Künstlers doch immer noch nicht die
Venus selbst, die ganze, wirkliche Venus ist. Die Kunst ist der
Olymp oder der Tempel der Götter. Im Tempel soll der Mensch
nur an die Götter, nicht an sich und seine Bedürfnisse denken; der
Tempel soll kein gemeines Haus, das Pulvinar der Götter kein
Hochzeitbette, der Altar kein Küchenheerd sein; aber daraus folgt
nicht, daß die Privatwohnung, der Heerd, die Schlafstätte, ja
selbst der verborgenste Hauswinkel nicht auch eine Stätte der Göt—
ter sei, so wenig als daraus, daß sie den Glanzpunkt ihrer Exi—
stenz im Himmel oder auf dem Olymp haben, folgt, daß sie nicht
auch zugleich auf der Erde wirken und walten. Was wären die
Menschen, was die Götter, wenn ihr ganzes Wesen und Wirken
in den Umfang eines Tempels gebannt wäre? In den Tempel
der Kunst gehören keine Handlungen, wie sie jenes unglückliche
Liebespaar bei Pausanias in dem Tempel noch dazu der keuschen
Jungfrau Artemis ausübte. Aber wo wäre der trojanische Krieg,
wo Helene und Paris, wo selbst der Vater der Götter mit seiner
zahlreichen Nachkommenschaft, wenn ihn nur die Venus der
griechischen Kunst, jene keusche, von den christlichen Archäologen
so sehr bewunderte und vergötterte Venus begeistert hätte?
Die Kunst ist eine ewige Jungfrau; aber Lebensquell, Mut—