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ter wird die Jungfrau nur, wenn sie ihre Jungfrauschaft aufgibt,
der Schande des Materialismus, der Noth der Geburtswehen sich
unterwirft. Die Kunst ist die Blume der Religion, aber nicht die
Blume, die Frucht ist, wenigstens für den Menschen, der letzte
Sinn der Pflanze. Die Blume erfreut uns mit Farben und
Wohlgerüchen; aber nur die Frucht enthält die Bestandtheile, die
Stoffe, auf die sich die Existenz und das Wesen selbst der Menschen
und Götter gründet. Der Tempel der Kunst ist allein der Ehre und
dem Ruhme der Götter geweiht, aber — wohl gemerkt! — nur we⸗
gen der Wohlthaten, die sie dem Menschen außer dem Tempel
erweisen. Wo der Mensch seine Güter, da hat er auch seine Göt⸗
ter, seine Religion, aber diese Güter finden sich nicht im Tempel;
dnν ò νναον, uα α ν ονααα, ubi enim utili-
tas, ibi pietas, sagt Epictet. Ench. 36.)
Der Fluch.
„Die Götter sind die wunscherfüllenden Wesen.“ Welche
Einseitigkeit, welche Willkühr! Kann man nicht mit demselben
Recht den entgegengesetzten Satz aufstellen: die Götter sind die
wunschverneinenden Wesen? Ist dieß nicht selbst in dem oben für
das Gegentheil angeführten Verse Homers: „aber nicht alle Ge⸗
danken und Wünsche des Menschen verwirklicht Zeus“ deutlich
ausgesprochen? Sagt nicht Homer ausdrücklich: „doch Zeus
selber ertheilt, der Olympier, jeglichem Menschen, Edlen so wie
Geringen nach eigener Wahl ihr Verhängniß?“ (O. 6,
188.) „Gott aber gewährt dieß, jenes versagt er, was sein
Herz auch immer beschließt, denn er herrschet mit Allmacht?“
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